Kino:Liebe auf den zweiten Blick

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Miloni (Sanya Malhotra) und Rafi (Nawazuddin Siddiqui) haben wenig gemeinsam und kommen sich gerade deswegen näher. (Foto: Joe D'Souza/Amazon)

Der indische Regisseur Ritesh Batra erzählt in "Photograph" von einem ungleichen Paar in Mumbai - und durchbricht dabei wie auf Zehenspitzen die klassischen Vorstellungen von Romantik.

Von Susan Vahabzadeh

Wie viele Menschen, denen man ein einziges Mal kurz begegnet ist, hat man Ende seines Lebens vergessen? Es sind wohl Tausende und Abertausende, nur selten prägt sich ein solcher kurzer Augenblick für immer ins Gedächtnis ein. Rafi (Nawazuddin Siddiqui) fotografiert Menschen an einer Anlegestelle in Mumbai und verkauft ihnen ein Polaroid, und würde er sich all diese Gesichter merken, wäre in seinem Kopf kaum Platz für etwas anderes. Es hat einen besonderen Grund, dass er Miloni (Sanya Malhotra) nicht vergessen kann, die junge Frau, die eines Tages gedankenverloren zusagt, sich von ihm fotografieren zu lassen. Sie ist nämlich mit dem Foto gedankenverloren weitergelaufen, ohne zu bezahlen.

Die beiden stammen aus unterschiedlichen Welten. Milonis Familie geht es gut, sie wohnt in einer großen Wohnung mit Dienstmädchen, und sie besucht eine Akademie für Wirtschaftswissenschaften, die sogar mit einem Bild von ihr wirbt. Die Eltern haben den Sohn von Bekannten im Auge, den sie Miloni gern als künftigen Ehemann empfehlen würden. Rafi ist aus einem armen Dorf nach Mumbai gekommen, jeden Cent, den er entbehren kann, schickt er seiner Großmutter, die ihn aufgezogen hat. Er teilt sich eine improvisierte Behausung mit einer Gruppe von Freunden, die alle nicht viel Geld haben, sich Arbeit auf der Straße gesucht haben. Die Großmutter macht sich Sorgen, dass Rafi in seinem Alter immer noch nicht verheiratet ist, sie droht, ihre Medikamente nicht mehr zu nehmen - Rafi ist auch wirklich kein Junge mehr.

Miloni und Rafi merken lange nicht einmal, dass sie füreinander bestimmt sein könnten

Die Neuigkeiten von der Großmutter im Streik pfeifen in Mumbai die Straßenhändler von den Dächern, jeder scheint davon gehört zu haben. Also druckt Rafi noch einmal Milonis Foto aus und schreibt der Oma, dies sei seine Verlobte. Auch Miloni kann den Fotografen vom Pier nicht vergessen, denn auf dem Foto, das er von ihr gemacht hat, findet sie sich besser getroffen als auf irgendeinem anderen, als habe er ihr in dem Augenblick, als er auf den Auslöser drückte, ins Herz geschaut, und sie blickte glücklicher zurück, als sie sich fühlt.

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"Photograph", der neue Film von Ritesh Batra, ist in warmen Farben und wie auf Zehenspitzen erzählt. Was sehr passend ist, denn er handelt von vorsichtigen Avancen, die zwei sehr leise, eher schüchterne, warmherzige Menschen einander machen. Der Inder Ritesh Batra hat "Lunchbox" gemacht und zuletzt, in den USA, "Our Souls at Night" mit Robert Redford und Jane Fonda. Er ist also Spezialist für komplizierte Liebesgeschichten, denen die Umwelt nicht besonders gewogen ist. In "Lunchbox" entspinnt sich eine Liebesgeschichte zwischen einem Mann kurz vor der Rente und einer verheirateten Frau, weil ihre täglich für ihren untreuen Gatten zubereiteten Speisen vom Kurier an die falsche Adresse geliefert werden; in "Our Souls at Night" erleben zwei verwitwete Nachbarn miteinander einen zweiten Frühling, dem ihre Kinder ein jähes Ende bereiten. Der Vorstellung von Romantik, bei der die Liebe mühelos alle Konventionen durchbricht und niederwalzt, was immer sich ihr in den Weg stellt, kann Ritesh Batra offensichtlich nicht viel abgewinnen.

Miloni und Rafi merken lange nicht einmal, dass sie vielleicht füreinander bestimmt sein könnten. Rafi sieht sich chancenlos; und Miloni scheint zu glauben, dass sie ihre Schuld nun einfach zehnfach zurückzahlt, in Naturalien, in Mühe und Zeit. Rafi hat sie ausfindig gemacht, als die Großmutter ihren Besuch ankündigt. Ein Treffen hat Miloni zugesagt, aber dann besucht sie Rafi und seine Oma täglich, und flugs stellt er fest, dass sich die beiden Frauen sogar ohne ihn verabreden, zum Einkaufen. Am Abend kniet sie sich neben das Lager des Hausmädchens und fragt sie aus nach dem Leben auf dem Lande.

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Ein merkwürdiges Mädchen hat Batra sich da ausgedacht, aber vielleicht ist das in Indien gar nicht so abwegig. Sie soll sich kleiden und studieren wie eine moderne Frau, aber sie trägt diese Modernität wie ein Korsett, sie hat ganz und gar nichts mit Emanzipation zu tun. Niemand, so scheint es, hat sie je gefragt, wie sie selbst sich ihr Leben vorstellt, ob sie überhaupt Lust hat, mit einem vermögenden, den Eltern genehmen, ungelenken Kerl nach Amerika zu ziehen. Freiheit ist das nicht.

Manchmal ist Freiheit das einfache Leben auf dem Lande, mit jemandem, der einen ganz grundlos bezaubert hat, in einer glückseligen Sekunde in einer Menschenmenge am Pier.

Photograph , Indien/USA 2019 - Regie, Buch: Ritesh Batra. Kamera: Tim Gillis, Ben Kutchins. Mit: Sanya Malhotra, Nawazuddin Siddiqui, Vijay Raaz, Virendra Saxena. NFP/Filmwelt, 108 Minuten.

© SZ vom 09.08.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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