Enthüllungen zum Documenta-Mitbegründer Werner Haftmann:"Jener unglückselige Werner"

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Der Kunsthistoriker Werner Haftmann, einer der bedeutendsten Vermittler der Moderne in der Nachkriegszeit und Kopf der Documenta-Ausstellungen, war während des Kriegs in Italien an Folterungen beteiligt. Doch wer in Florenz recherchiert, stößt auf einen widersprüchlichen Charakter.

Von Thomas Gruber

Bis vor Kurzem nahm die deutsche Debatte kaum Notiz von dem Schauplatz, an dem der in der Bundesrepublik so einflussreiche Kunsthistoriker Werner Haftmann die entscheidenden Jahre der Vor- und Kriegszeit verbrachte: Italien. Dass er Partisanen jagte und an Folterungen beteiligt war, wie der Historiker Carlo Gentile nachweist (SZ vom 7. Juni) , hat die Diskussion verschärft und verlagert. Eine eigentümliche Quelle in Florenz erlaubt nun neue Einblicke in die Komplexität seines Charakters, Haftmanns Freundschaft zur kommenden literarischen Elite Italiens und seine Liebe zu einer jüdischen Partisanin.

Unverhohlene Antipathie spricht aus dem Charakterbild, das der französische Diplomat Henri-Reynald, Comte de Simony, 1942 von Werner Haftmann im Erinnerungsbuch der Florentiner Villa San Francesco di Paola zeichnete. Was in aller Welt hatte sich Haftmann vier Jahre zuvor dabei gedacht, just zu Ehren von Hitlers Florenz-Besuch einen Beitrag zu den Künstlern und Denkern Adolf von Hildebrand, Konrad Fiedler, Hans von Marées vorzuschlagen? Zwar waren alle drei der Villa (in der Haftmann von 1938 bis 1940 selbst wohnte) verbunden, aber bekanntermaßen eben auch "Halbjuden"? Selbstverständlich wurde der Artikel abgelehnt. Heldenmut will der Graf aber nicht diagnostizieren. Vielmehr habe Haftmann versucht, die Künstlervilla dem Regime auf plumpe Weise anzudienen. Das passe ins Bild: Er habe "keine sehr tiefe Intelligenz", "keine wahre Kultur, kein Verständnis für Kunst", sei ein "Frauenheld", "wild, brutal, primitiv aufgewachsen, Abenteurer".

Der Historiker wird derartige Schmähungen mit Vorsicht lesen. Dennoch zeigt sich: Je länger Haftmann in Florenz ist, um so paradoxer handelt er, und je weniger man seinen Nachkriegsaussagen vertraut, um so mehr gibt es aufzuklären. Zwar bedeutet es wenig, dass er zwischen Partei-Eintritt 1937 und Aushändigung des Mitgliedschaftsbuches 1940 "nur" Parteianwärter war: Diese Eingangsstufe mussten infolge des Ansturms auf die NSDAP damals die meisten Neumitglieder durchlaufen. Warum aber nennt Haftmann in seiner im Herbst 1939 veröffentlichten Doktorarbeit im gleichen Atemzug mit hundertprozentigen Nazis die jüdischen Kunsthistoriker Aby Warburg und Felix Saxl? Warum ist er ein Jahr später nicht mehr Mitarbeiter des Kunsthistorischen Instituts in Florenz (KHI)? Wie sehr war er tatsächlich dem Kreis der deutschen Exil-Künstler um die Villa Romana und Gertrude Steins Bruder Leo verbunden? Und vor allem: Inwiefern deuten diese Widersprüchlichkeiten auf eine innere Ablösungsgeschichte hin?

Bernard Berenson nutzte seinen Besucher als "Foolometer"

Für Graf Simony war die Sache klar: Realitätsverlust aufgrund exzessiver Selbstbezogenheit. Dafür zitierte er niemand Geringeren als "BB", den weltberühmten Renaissancespezialisten und Menschenkenner Bernard Berenson, zu dessen Villa I Tatti im nahen Settignano Künstler, Intellektuelle, Schriftsteller, Aristokraten pilgerten. Simony zufolge sah Berenson in Haftmann ein "Foolometer", ein ideales Barometer für den Druck im deutschen Hauptquartier, weil Haftmann nie bedenke, mit wem er gerade spreche.

Man fragt sich, wie eine solche Diagnose zum erfolgreichen Nachkriegs-Netzwerker passt. Hingegen stimmt sie mit dem Bild überein, das Berenson in seinen Memoiren "Rumor and Reflection" von Haftmanns Besuch am 27. Juli 1943 zeichnete: Obwohl "anti-Nazi", sei "H." "treu und fromm" - Berenson verwendet die deutschen Ausdrücke - gegenüber der Armee und glaube, was man ihm dort sage: dass Italiens Kriegsaustritt für Deutschland nur eine Erleichterung wäre, man den Alliierten aber Norditalien keinesfalls als Aufmarschgebiet überlassen werde. Gegebenenfalls würden es die Deutschen "mit Zähnen und Klauen" verteidigen, egal, wie groß der Schaden für die Bauwerke und (besonders bemerkenswert) wie groß das Elend für die Bevölkerung sei. Allerdings müssen Berensons Memoiren als das gelesen werden, was sie sind: ein sorgfältiges literarisches Konstrukt, geschrieben aus der Nachkriegsperspektive.

Glücklicherweise jedoch hat sich in Berensons Archiv eine andere, unscheinbare, aber ungemein aufschlussreiche Quelle erhalten: kleine Taschenkalender, die als "Visitor Books" vom Ersten Weltkrieg bis kurz vor Berensons Tod lückenlos für jeden einzelnen Tag die Gäste in I Tatti oder der Sommerfrische bei Vallombrosa verzeichnen, getrennt für Lunch, Tea und Dinner, jede Übernachtung, jede Reise, oft auch die Lektüren.

Die jüdische Dichterin Giorgia Valensin, Übersetzerin chinesischer Lyrik, war mit Werner Haftmann während der NS-Zeit in Italien liiert. Später soll sie sich Partisanen angeschlossen haben. (Foto: Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Familie Balzani)

Was besagen die Besucherbücher zu Werner Haftmann? Zunächst, dass Berenson dessen Bekanntschaft nicht erst im Juli 1943 machte. Das hätte einerseits überrascht, gehörte ein Besuch beim berühmten Mann doch selbst für NS-nahe KHI-Angehörige lange Zeit zum Florenz-Erlebnis. Andererseits besuchte ihn kaum ein Deutscher während der Kriegsjahre annähernd so häufig wie der 47 Jahre jüngere Werner Haftmann. War es 1938 noch eine einzige Einladung gewesen (kurz vor den gerade aus Österreich geflohenen Franz Werfel und Alma Mahler-Werfel), kam Haftmann 1939 bereits zwei und 1940 vier Mal - häufiger als andere deutsche Besucher, wie etwa Wagners Stieftochter Blandine, der exilierte Maler Hans Purrmann oder der Dichter Rudolf Borchardt. Am 6. Juli 1941 tritt er zum ersten Mal mit einer "Miss Valensin" auf. Die junge Frau erscheint im folgenden Jahr häufig allein zum Tee, während Haftmann in Turin Kriegsdienst leistet und dementsprechend auch 1943 etwas seltener erscheint.

Am 27. Juli jedoch kommen Haftmann und seine Freundin Giorgia Valensin gemeinsam aus der nahe gelegenen Villa L'Orcio herüber. Erst zwei Tage zuvor war die Nachricht von Mussolinis Sturz in I Tatti eingetroffen. Man fragte sich besorgt, was dies für die Deutschen in Florenz bedeutete - ebenso wie für den bislang von Mussolinis engem Umfeld geschützten Berenson. Schon am 2. August ist Haftmann erneut zu Besuch, dieses Mal ganztags. Leistet er dem Amerikaner und dessen langjährigen Freunden "Foolometer"-Dienste? Marchese Serlupi Crescenzi wird Berenson jedenfalls am 10. September, einen Tag vor dem Einmarsch der Deutschen in Florenz, in Sicherheit bringen. Seine eigene Villa lässt der Marchese zur Botschafterresidenz San Marinos beim Heiligen Stuhl umwidmen und Berensons Kunstsammlung beschlagnahmen, bevor Görings Agenten eintreffen.

Darüber hinaus geben die Kalender Hinweise auf das kaum erforschte Leben von Giorgia Valensin, Werner Haftmanns damaliger Freundin. 1909 als Tochter einer italo-irischen Mutter und eines vielseitigen Geographen, Kolonialexperten und Florentiner Akademiemitglieds geboren, wurde sie noch 1930 als poetisches Jugendtalent gefeiert. 1938 jedoch wird ihr Vater als Jude aus allen Ämtern ausgeschlossen. Mutter und Tochter gehen zunächst ins britische Exil. In der zweiten Jahreshälfte 1940 vermitteln ihnen Freunde die Villa L'Orcio in Settignano, wo während des Krieges auch Haftmanns Habe eingelagert wird. In Berensons nahe gelegener Bibliothek arbeitet Giorgia an einer Übersetzung chinesischer Lyrik. Freilich bedienen sich ihre Übersetzungen einer englischsprachigen Vorlage, der damals populären Anthologien von Berensons Bekanntem Arthur Waley.

In der Forschung längst bekannt, wenn auch in Deutschland kaum diskutiert ist der Kontext von Valensins Übersetzung: der Turiner Einaudi-Verlag, in dem damals Fernöstliches angesagt war und zu dessen Exponenten wie Cesare Pavese Haftmann gute Kontakte hatte. Vermittelt hatte diese sein Freund Giaime Pintor, Germanist und seit 1941 Haftmanns Kollege bei der Turiner Kommission zur Überwachung des deutsch-italienisch-französischen Waffenstillstands. Pintor stellte vermutlich auch den Kontakt zum sizilianischen Schriftsteller Elio Vittorini her, dessen in Italien verbotene "Conversazione in Sicilia" Haftmann übersetzte und 1943 in der neutralen Schweiz publizieren ließ. Neue Archivfunde in Florenz belegen zudem, dass Haftmann 1942 an einem Buch zur zeitgenössischen Malerei Italiens arbeitete.

Die Namen Pavese und Vittorini sind in Italien weithin bekannt. Lange dienten sie auch einer nationalen Selbstvergewisserung und heroischen Resistenza-Geschichtsschreibung. Umso höhere Wellen schlug unlängst in Italien die Veröffentlichung von Cesare Paveses sogenanntem "Taccuino segreto", das just für die Jahre seiner Bekanntschaft mit Haftmann profaschistische und kriegsbejahende Aussagen aufweist. Die Kenntnis der Umwege, auf denen sich manche Exponenten der "Einaudi-Kultur" vom Faschismus lösten, soll nicht dazu dienen, Haftmann zu entlasten. Sie hilft aber zu verstehen, warum er hier Freunde finden und teilweise über den Krieg hinaus halten konnte.

Giorgia Valensin soll die "Banda Corbari" unterstützt haben

Dieser hatte die wesentlichen Protagonisten bereits in unterschiedliche Richtungen geführt, als Giorgia Valensins "Liriche cinesi" im Oktober 1943 endlich gedruckt wurden. Berenson war untergetaucht, Haftmann laut eigener Aussage zur Ausbildung in Wiesbaden. Valensin hatte ihn im August 1943 nicht mehr zu Berenson begleitet und sollte I Tatti erst im November 1944 wiedersehen.

In der Zwischenzeit war Haftmann, wie Carlo Gentiles Forschungen belegen, an Partisanenerschießungen beteiligt. Vater und Tochter Valensin hingegen versteckten vom September bis Dezember 1943 in ihrem Hauptwohnsitz Tredozio in der Emilia-Romagna ebensolche Partisanen sowie aus Lagern entflohene englische Kriegsgefangene. Es gibt Indizien dafür, dass Giorgia Valensin selbst Anfang 1944 die vor Ort operierende, berüchtigte Resistenza-Gruppe "Banda Corbari" unterstützte. Erst als den Valensins die Deportation droht, tauchen sie ab. Was wusste Haftmann von alledem? Was hat er unternommen? Wie sehr hat es ihn geschmerzt, dass sich sein Freund Giaime Pintor ebenfalls für den Widerstand entschied und auf dem Weg zu den Resistenza-Gruppen am 1. Dezember 1943 im Molise von einer deutschen Mine getötet wurde?

So ein "Visitor Book" verzeichnete jeden Besuch, getrennt nach Lunch, Tea und Dinner. (Foto: Biblioteca Berenson, I Tatti - The Harvard University Center for Italian Renaissance Studies, courtesy of the President and Fellows of Harvard College/Business Graphics Datentechnik)

Briefe zwischen Haftmann und Giorgia Valensin sind nicht erhalten. Doch bezeugt die Einaudi-Verlagskorrespondenz ihren Einsatz für Haftmann nach Kriegsende. Im Januar 1946 versichert ihr Pavese, man versuche, "jenem unglückseligen Werner" über das Schweizer Rote Kreuz zu helfen. Da man dort aber offenbar nichts für den "Verrückten" tun kann, fordert er sie im März und Mai 1946 auf, möglichst viele Leumundszeugnisse zu sammeln. Bei den Alliierten werde der gemeinsame Freund Felice Balbo ein Wort einlegen - nur er kenne die Details von Haftmanns Kriegseinsatz. Im Mai 1948 scheint die "Angelegenheit Werner" bereinigt. Am 20. Juli nennt Haftmann dann im einzig erhaltenen Antwortbrief an Berenson sein Leben "sehr seltsam und ungemein abstrakt" ("very strange, and enormously 'abstrait'"). Zum angriffslustigen Zeitungsfritzen sei er geworden, der über moderne Kultur schreibe. Giorgia Valensin erwähnt er nicht.

Zu vieles ist in der "Angelegenheit Werner" unklar und widersprüchlich, um bereits abschließende Wertungen vorzunehmen. So hatte sich selbst Italo Calvino in den Sechzigerjahren Haftmanns Untertauchen damit erklärt, dieser habe sich nicht den Alliierten ergeben können, weil er im Haus von Freunden im Fleimstal bei Trient ein Buch schreiben wollte. Eine eigenwillige Prioritätensetzung für das Frühjahr 1945, die eher nach einer Schutzbehauptung (etwa für einen abgetauchten Partisanenjäger?) klingt. Andererseits fragt man sich, was genau 1948 zu Haftmanns Entlastung führte.

Für nicht wenige dieser Fragen liegen die Antworten in Florentiner Archiven. Das digitale Zeitalter böte die Chance einer systematischeren Erschließung der zahllosen Netzwerke, Konstellationen und Verbindungen zwischen den Villen. Wann Haftmann Berenson nach 1943 wiedergesehen hat, ließe sich dagegen schon jetzt klären. Man müsste nur die Besucherbücher durchgehen.

Thomas Gruber ist Postdoctoral Fellow in Bernard Berensons ehemaliger Villa I Tatti in Florenz und arbeitet im Führungsteam des Harvard University Center for Italian Renaissance Studies.

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