Frankreich:Paris, was nun?

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Notre-Dame ließe sich auf verschiedene Arten rekonstruieren. Welches Stadium also wählt man aus? (Foto: Anna Serrano/hemis/laif)

Emmanuel Macron will den Wiederaufbau von Notre-Dame zum nationalen Projekt machen. Doch die Geschichte zeigt: So einfach lassen sich Kunst und Identität nicht wiederherstellen.

Von Sonja Zekri

Verglichen mit dem Nationalmuseum in Brasilien ist Notre-Dame in einer beneidenswerten Lage. Für das im September abgebrannte Museum in Rio de Janeiro gingen nach Angaben der Museumsleitung bislang 225 000 Euro Spenden ein, für Notre-Dame sind es bereits 880 Millionen Euro. Welche Hindernisse beim Wiederaufbau der Pariser Kathedrale auch auftreten werden - am Geld wird er wohl nicht scheitern. Im Gegensatz zu dem enzyklopädischen Museum im ehemaligen brasilianischen Kaiserpalast mit Millionen römischen, ägyptischen Artefakten ist Notre-Dame ein Projekt von nationaler Bedeutung, von nationaler Strahlkraft.

Dass dies oft und auch in diesem Fall heißt: von politischer Bedeutung, kündigt sich bereits an. Als der französische Präsident Emmanuel Macron am Dienstagabend sagte, er wünsche sich einen Wiederaufbau von Notre-Dame innerhalb von fünf Jahren - also pünktlich zu den Olympischen Sommerspielen in Paris - ergänzte er, dass "jetzt keine Zeit für Politik" sei. Es war als Appell zur Einigkeit in einem uneinigen Land gemeint, aber ein Teil der Franzosen dürfte es auch als Macrons Versuch begriffen haben, von seiner bedrängten innenpolitischen Lage abzulenken. Angesichts der nationalen Katastrophe, so ließe sich Kaiser Wilhelms II. Zitat von 1914 aufgreifen, kennt Macron keine Rechten und keine Linken mehr, keine Gelbwesten und kein Rassemblement National, er kennt nur noch Franzosen.

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Ob die Gelbwesten und Rassemblement National das genauso sehen, lässt sich noch nicht sagen, aber zweifellos bestätigt der Satz Macrons Gespür für die Ambivalenz des Moments. Den Brand von Notre-Dame, den einige durchaus als Menetekel für seine Politik, für Frankreich, für Europa begreifen, will er als Chance für neue Harmonie und Größe sehen.

Der Wiederaufbau von Bauwerken kann diese Kraft entfalten, er hat es oft getan. Der Anblick zerstörter Kunst mobilisiert zuweilen weit mehr Kräfte und Ressourcen als menschliches Leid. Das ist umstritten, aber in gewisser Hinsicht nicht unlogisch. In der Kunst - der Architektur, der Bildhauerei oder Malerei - sieht der Mensch sozusagen die beste Möglichkeit seiner selbst. Deshalb bedeutet die Zerstörung von Kunst immer ein doppeltes Scheitern: als Vernichtung des höchsten Ausdrucks menschlicher Vorstellungskraft und als zivilisatorisches Versagen. Das gilt besonders, wenn Kunstwerke durch Kriege oder Anschläge zerstört werden. Aber es gilt - abgesehen von allen technischen Gründen - auch bei Unfällen und Unglücken. Wenn Notre-Dame allen so am Herzen lag, warum konnte ein solcher Brand nicht verhindert werden?

Insofern ist der Reflex, die Beschädigung oder Zerstörung ungeschehen zu machen, fast zwingend - und dies umso stärker, je gewaltsamer die Zerstörung war, je mehr sie mit einer Niederlage oder Unterdrückung einherging. Als die Blockade Leningrads endete, lagen die Schlösser um die Stadt, die heute wieder Sankt Petersburg heißt, in Trümmern. Das Bernsteinzimmer aus Zarskoje Selo war verschleppt worden, die Kaskaden in Peterhof waren versiegt. Anders als im Westen führte Hitler seinen Krieg im Osten gegen, so sah er das, "Untermenschen", unfähig zur Kultur. Dass die sowjetischen und russischen Sieger das Bernsteinzimmer und alle Schlösser rekonstruierten, dass Polen das zerstörte Danzig, das zerstörte Warschau wiederaufbaute und Weißrussland auf den Ruinen von Minsk eine neue, durchaus puppenstubenhafte Hauptstadt, waren Akte nationaler Selbstbehauptung. Aber die lückenlose Rekonstruktion war schon damals nicht die einzige Option. In Wolgograd, dem einstigen Stalingrad, ist kaum ein Haus älter als der Krieg, und nach dem Sieg über die Nazis gab es in der Sowjetunion durchaus Überlegungen, die Ruinen zu bewahren als Mahnmal gegen den Krieg und die Stadt neu aufzubauen.

Denn eine Rekonstruktion, und sei es die gelungenste, kann die Tatsache einer Beschädigung oder Zerstörung nicht zum Verschwinden bringen. Die intakte neue Fassade kann im schlimmsten Fall sogar wie ein Vertuschen wirken, das hat die Debatte um die Frauenkirche in Dresden gezeigt. Was die einen als tröstende, einende Geste empfanden, wirkte auf die anderen wie eine Verdrängung deutscher Verantwortung, ja, angesichts modernster technischer Innenausstattung in historisierendem Äußeren, wie Geschichtsklitterung.

Nun war die Dresdner Frauenkirche einigen Menschen zwar sehr wichtig, aber nie ein Symbol von nationaler Bedeutung wie Notre-Dame. Selbst das Berliner Stadtschloss entfaltete zwar ein erhebliches Spendenaufkommen, aber nie einigende Kraft, im Gegenteil. Was einigen Preußen-Aktivisten logisch, ja, zwingend erschien, wirft mit jedem Jahr mehr Fragen auf.

Eine davon - die durchaus auch auf Notre-Dame zukommt - betrifft die Entscheidung, welches baugeschichtliche Stadium rekonstruiert werden soll. Das Schloss, wie Notre-Dame und viele andere, über Jahrhunderte um- und weitergebaute Bauwerke, ließe sich auf unterschiedliche Arten rekonstruieren. Welches Stadium also wählt man aus? Wie lassen sich die zerstörten Elemente - das Dach, der Spitzturm - von der historischen Substanz absetzen? Der Solitär Notre-Dame dürfte Architekten und Restauratoren inspirieren.

Die Chance, dass Frankreich über dem Wiederaufbau der Kathedrale zusammenfindet, dürfte genauso groß sein wie jene, dass das Land nicht zusammenfindet. Das liegt in der Natur solcher Projekte. Sie sind - neben aller identitätsstiftenden Bedeutung - auch ein Laboratorium für nationale Sehnsüchte und für nationale Ängste.

© SZ vom 18.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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