Thriller "Missing" im Kino:Siri, ruf die Polizei

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Wir hacken unsere Mom: Storm Reid (links) und Megan Suri in "Missing". (Foto: Temma Hankin/Sony Pictures)

Der Thriller "Missing" zeigt eine Tochter, die online den Spuren ihrer verschwundenen Mutter folgt. Gruselig ist vor allem, wie viel sie dabei entdeckt.

Von Doris Kuhn

Wenn die Mutter mit dem neuen Lover nach Kolumbien fliegt, macht man sich als Teenager-Tochter schon seine Gedanken. Darüber nämlich, wie man in der sturmfreien Bude die beste aller Partys feiern kann - und dann auch, wie man das folgende Chaos wieder in den Griff bekommt. Damit ist die 18-jährige June (Storm Reid) in Los Angeles noch vollauf beschäftigt, als klar wird, dass die Mutter und ihr Begleiter nicht plangemäß zurückkommen. Und, schlimmer noch, dass sie offline sind.

So beginnt "Missing", ein ziemlich erstaunlicher Thriller, der sich komplett auf den Bildschirm von Junes Rechner verdichtet - den sie, wie auch ihr Smartphone, nie abzuschalten scheint. Sie recherchiert im Netz, denn sie ist sicher, dass etwas passiert sein muss. Das FBI und die US-Botschaft in Kolumbien trödeln bei der Suche, also besorgt June sich einen eigenen Detektiv vor Ort. In Cartagena heuert sie für acht Dollar die Stunde einen Putzmann an, online natürlich, den sie fachfremd einsetzt: Er durchkämmt in ihrem Auftrag mit seinem Moped die Stadt, auf der Suche nach Grace, der Mutter (Nia Long). Sie kommunizieren über FaceTime, der frischgebackene Detektiv Javi (Joaquim de Almeida) ist ein netter, väterlicher Kerl, der Junes Sorgen ernst nimmt.

Gemeinsam folgen sie der Spur, die der Standortverlauf von Graces Smartphone preisgibt - June auf ihrem Computer in LA, Javi auf den Straßen Cartagenas. Der direkte Sprung vom Monitor zur Realität gibt der Sache einen Anflug von Videospiel, macht aber auch nachdrücklich klar, wie effizient eine Verfolgung wird, wenn man genug digitale Hilfsmittel heranzieht. Zu diesem Zweck dringt June in sämtliche persönlichen Accounts ihrer Mutter ein, nicht zuletzt in deren Kreditkartenabrechnung oder in die Dating-App, auch vor dem Mail-Account des Lovers macht sie nicht halt. Parallel knackt sie jede Webcam in LA und Cartagena, die ihr nützlich sein könnte.

Die bösen Männer, der weiße Kastenwagen - Spuren gibt es überall

Wie June die digitalen Spuren von Grace und Kevin sichtbar macht, wird sehr einleuchtend und schnell erzählt. Man blickt gemeinsam mit ihr auf den Monitor, man erlebt ihre Videocalls mit Javi, sieht die gehackten Chat- oder Mailverläufe der zwei Gesuchten. Junes Vorgehensweise ist professionell, der Effekt spannend - es kommt zu einer Gleichzeitigkeit von Stillstand und Bewegung, Alltag und Bedrohung. Denn June kann die Ferien der Mutter fast lückenlos im virtuellen Rückblick ansehen. Und sie findet den Moment, in dem böse Männer die beiden Urlauber von der Straße weg in einen weißen Kastenwagen ziehen.

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Eine Entführung also, soweit ist inzwischen auch das FBI. Dadurch wandert der Fall in die Nachrichten, die sich als eine weitere Ebene dazuschalten. Der Krimi allerdings ist da noch lange nicht am Ende, im Gegenteil. Überraschend wird er eine Wendung nach der anderen nehmen. Das macht ihn zu einer aufregenden Schnitzeljagd, bei der vieles, was June sukzessive aufdeckt, weder für sie noch für den Zuschauer ansatzweise vorherzusehen ist. Und doch ist jede Enthüllung, einmal sichtbar gemacht, meistens nachvollziehbar.

"Missing" wurde inszeniert von Will Merrick und Nick Johnson, die mit dem Genre des Desktop-Films vertraut sind. Sie waren das Editoren-Duo für den Film "Searching", der 2018 ziemlich Furore machte. Der war in Form und Inhalt ähnlich, nur in umgekehrter Konstellation: Ein Vater suchte seine verschwundene Tochter über die digitalen Spuren, die sie hinterließ. Schon da wurde demonstriert, dass Beweise für ein Verbrechen digital oft besser zu finden sind als in der Realität, dass die virtuelle Detektivarbeit womöglich die effizientere ist.

Das ist zwar inzwischen, eine Pandemie und vier Jahre technologische Entwicklung später, weniger spektakulär als noch 2018, aber "Missing" zeigt noch etwas anderes, Gegenwärtigeres. Man sieht bei Junes Ermittlungen, wie schnell jedermanns Existenz durchsichtig wird - und das beschränkt sich nicht auf die persönlichen, freiwilligen Auftritte im Netz. Der Gedanke, es gäbe eine Anonymität, wird geradezu albern, wenn in Stadt und Land, an jedem Bahnsteig, jeder Kreuzung, hunderte Überwachungskameras ihre Videos aufzeichnen, die von einem beliebigen Teenager gehackt werden können. Das ist in einem Krimi ausgesprochen hilfreich. Aber beruhigend ist es nicht.

Missing , USA 2023 - Regie: Will Merrick, Nick Johnson. Drehbuch: Merrick & Johnson nach einer Geschichte von Aneesh Chaganty. Mit Storm Reid, Joaquim de Almeida, Nia Long, Ken Leung. Sony Pictures, 111 Minuten. Kinostart: 23. 2. 2023.

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