Menschenzeitalter Anthropozän:Aus den Fugen

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Der Mensch ist selbst zur Naturgewalt geworden, Atomkraftwerke wie hier in Grafenrheinfeld, sind nur einses seiner Instrumente. (Foto: Daniel Karmann/dpa)

Ist die Welt noch zu retten? Bestürzt stellen Wissenschaftler das Ausmaß fest, in dem der Mensch zur Naturgewalt geworden ist. Auf einer Tagung in Berlin verbündeten sich jetzt Wissenschaft und Kunst, um es zu begreifen.

Von Jörg Häntzschel, Catrin Lorch und Alexander Menden

Auf die Natur war bis vor Kurzem Verlass. Ein Bauer zum Beispiel wusste so gut wie seine Vorfahren vor Tausenden Jahren um die Jahreszeiten und das Wetter. Dürre oder Ungeziefer änderten nichts daran, dass die Natur bald wieder zum gewohnten Programm zurückfand. "Die Natur war eine Art Kulisse, vor der der Mensch agierte", so sagte es Bernd Scherer, der Direktor des Berliner Hauses der Kulturen der Welt, als er am vergangenen Wochenende den Schlussakt seiner zweijährigen Reihe "Das Anthropozän-Projekt" eröffnete.

Doch diese Ära ist nun vorbei. Der Mensch hat mit seiner frenetischen Aktivität so tief und nachhaltig in die Welt eingegriffen, dass es Natur im bisherigen Sinne, also als Gegenkonzept zur Sphäre des Menschen, nicht mehr gibt.

Aus der Sichte der Geologen dagegen war der Auftritt des Menschen in der schier endlos langen Erdgeschichte bisher so kurz, dass er nicht weiter der Rede wert war. Nun stellen sie - nicht ohne Bestürzung - fest, dass er in dieser kurzen Zeit so viele Veränderungen angerichtet hat wie zuvor jene geologischen Großereignisse, Vulkanausbrüche, Meteoriteneinschläge, die in früheren Zeiten der Erdgeschichte Epochenbrüche auslösten.

Jeden Tag ein neuer Staudamm

Der Mensch ist selbst zu einer Naturgewalt geworden, zum "geologischen Akteur". Seine Instrumente sind Biotechnologie und Atomkraft, ganz zu schweigen vom ungehemmten Verheizen fossiler Brennstoffe. Er hat das Klima nachhaltig verändert und die gesamte Chemie des Planeten aus dem Gleichgewicht gebracht, er hat Plutonium über die Erde gestreut und neue Metalle erfunden. Er trägt Berge ab, durchbohrt die Erde und baut im Schnitt täglich einen neuen Staudamm. Seine Städte haben wenig mit den Holzhütten von einst zu tun, eher mehr mit Gebirgen. Seine Spuren werden auch in Millionen Jahren noch sichtbar sein.

Wir stehen am Anfang des Anthropozäns, des Zeitalters des Menschen, das nun dem beschaulichen und stabilen Holozän folgt. Davon sind mehr und mehr Geologen überzeugt, ein Schlag von Wissenschaftlern, die es gewohnt sind, ihren Blick auf feinste Schichten zu richten, um Jahrmillionen darin abzulesen.

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In solchen Zeiten verbündet sich die Wissenschaft mit der Kunst

Nun sind sie gezwungen, den gewaltigen aktuellen Beschleunigungsschub in der Geschichte dieses Planeten zu erklären: Einer von ihnen ist der britische Geologe Jan Zalasiewicz, der mit den Kollegen der " Anthropocene Working Group" an einem Bericht für die Royal Society arbeitet, der nachweisen soll, dass das Anthropozän tatsächlich begonnen hat. "Wir interessierten uns für den Fingerabdruck, jetzt interessieren wir uns für den Finger", sagte der Archäologe Matt Edgeworth in Berlin. Und wo ein Weltbild aus den Fugen geht, beginnt auch die Wissenschaft an ihrem Vokabular und ihren Methoden zu zweifeln. Wie soll der Mensch sich so weitreichende Befunde begreiflich machen? In solchen Zeiten verbündet sich die Wissenschaft mit der Kunst.

Das gab es schon einmal. Am Vorabend der Renaissance, als den Menschen klar wurde, dass die Welt nicht von einem Gott als Bühne für den Menschen eingerichtet wurde, hatte der Architekt und Bildhauer Filippo Brunelleschi in Florenz schon eine bis dahin undenkbare Kirchenkuppel errechnet, Giotto entdeckte die Perspektive und bescherte der Malerei mit einer winzigen Fliege einen nie gesehenen Naturalismus.

Noch gibt es keinen neuen Leonardo, doch was derzeit auf Kongressen und Veranstaltungen wie eben jenem Anthropozän-Projekt in Berlin oder beim diesjährigen Marathon der Serpentine Gallery, "Extinction: Visions of the Future", geschieht, sind erste Versuche, die neue Ära über Gattungsgrenzen hinweg zu kartografieren.

Wobei die Beiträge der Künstler weniger die faktenreichen Vorträge der Wissenschaft illustrierten, sondern belegten, dass es destabilisierender Darstellungen bedarf, will man nicht in der Sprache derer argumentieren, deren Kurven und Diagramme, deren Denken Teil des Problems sind. Es sei an der Zeit, so forderte der Ehrenvorsitzende des Marathons, der Aktivist und Künstler Gustav Metzger, dass sich die Kunst "entscheidend ausweitet", indem sie sich in den Dienst der Natur stellt. Denn der Unterschied zwischen einer zu 90 und einer zu 100 Prozent ausgerotteten Spezies beträgt eben mehr als 10 Prozent und lässt sich mit einer mathematischen Kurve nicht wirklich darstellen.

Diagramme, übersetzt in erzählerische Wut

Es sind Künstler wie Katja Novitskova, die darauf hinweisen, dass die Vorstellungskraft des Menschen beschränkt ist, schon weil dessen Auge ein auf Früchte und flüchtendes Wild kalibriertes Instrument ist. Dem begegnet sie mit Schaubildern, die das Zickzack herkömmlicher Diagramme in erzählerische Wut übersetzen: Blutrote Vektoren hüpfen hier neben blassen Pferden auf Trampolinen. So dargestellt, bewegen sich Statistiken mit einer Dynamik, in der sich vor allem die Unberechenbarkeit der Welt spiegelt.

Solche Vorträge bauen auf Collagen aus Filmschnipseln, Sound-Files und lyrisch angelegte Essays. Der Gegensatz zu den klassischen Formen der Wissensaufbereitung fiel auf, als der Astronom Martin Rees auf diese jungen Künstler traf. Res klopft die Zukunft noch mit den Mitteln der Wahrscheinlichkeitsrechnung auf die Frage hin ab, ob zur Zeit die Gefahr weltweiter Überschwemmung größer ist als die eines Asteroiden-Absturzes.

Wo beginnt das Leben?

Manche Wissenschaftler greifen inzwischen allerdings schon selbst zur Allegorien. "Wie definieren wir Leben, wie Nicht-Leben?", fragte Elizabeth Povinelli, Anthropologin an der Columbia University, und begann einen Vortrag, der sich der Performancekunst bediente. Niemand im Publikum nahm Anstoß, als sie aus dem Aquarium zu ihrer Rechten Steine in das Feuer zu ihrer Linken warf. Und auch ein paar Tropfen Wasser verzischten ohne Protest, obwohl ja Tausende winziger Lebewesen ihr Leben ließen.

Erst als sie eine Schildkröte in die Flammen werfen wollte, jaulte das Publikum wie erwartet auf. "Warum sprechen wir also nicht über das massenhafte Artensterben?", fragte sie und postulierte: "Wir müssen uns als System verstehen. Tötet man einen Teil, tötet man das ganze System."

Die Erde ist eine andere geworden

Der Anthropozän-Diskurs der Wissenschaften und Künste hat erst begonnen. Er wird weit über die Debatten um Umwelt und Zerstörung hinausgehen. Es ist zu spät, die Umwelt zu "schützen". Der Planet Erde ist kein Patient, der mit etwas Recycling und Energiesparen kuriert werden kann. Nein, er ist ein dauerhaft anderer geworden, und die Veränderung geht rapide weiter.

Der Mensch selbst hat diese Prozesse in Gang gebracht. Mit dem relativ stabilen Gleichgewicht, das über Zehntausende Jahre auf der Erde herrschte, wird, so Bernd Scherer in Berlin, unweigerlich auch das Weltbild des Menschen zerstört, das auf der stabilen Beziehung von Natur und Kultur, Subjekt und Objekt beruhte - und damit auf der Repräsentationsbeziehung zwischen Mensch und Welt, die der Kultur seit der Höhlenmalerei zugrunde liegt. Das ist ein Zeitenwandel, für den die Menschheit nicht nur Erklärungen suchen muss, sondern auch neue Bilder und Erzählformen, um mit ihnen eine Lösung zu finden, die dem Anthropozän doch noch eine Wendung zum Guten geben kann.

© SZ vom 25.10.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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