"Only in America" von Matthew E. White:Für all die Getöteten

Lesezeit: 3 min

Zum Beispiel George Floyd, den im Jahr 2020 der Polizeibeamte Derek Chauvin vor den Augen von Zeugen erstickte. Kenny Altidor hat ihm ein Porträt gewidmet. (Foto: ANGELA WEISS/AFP)

In den USA ist Polizeigewalt nicht nur Alltag, sie ist Teil der Identität - und damit der Musik-DNA. Der Sänger Matthew E. White fügt dem Kanon ein tolles Album hinzu.

Von Jakob Biazza

Zum Beispiel Walter Scott. Erschossen von hinten, als er vor einem Polizisten in North Charleston, South Carolina weglief. Der Beamte hatte Scott wegen eines defekten Bremslichts aufgehalten. Acht Mal schoss er. Fünf Kugeln trafen.

Zum Beispiel Philando Castile. Anderes Rücklicht, gleicher Wahnsinn. Getötet vor den Augen seiner Freundin und deren Tochter - bei einer Verkehrskontrolle. Die Behörden haben das Video selbst veröffentlicht, kurz nach dem Freispruch des Beamten, der in Panik gerät, als Castile ihm sagt, er habe eine Waffe (und die dazugehörige Genehmigung). Sieben Sekunden dauert es, bis der Polizist seine eigene Waffe gezogen und sieben Mal in den Körper Castiles abgefeuert hat.

Zum Beispiel Sandra Bland. Zum Beispiel Stephon Clark. Zum Beispiel Freddie Gray, Michael Brown, Botham Jean, Corey Jones. Alle haben sie Wikipedia-Einträge, die ihren Tod beschreiben als Resultat von Rassismus, Angst, Überreaktionen, mangelnder Ausbildung oder stumpfem Hass. Und ihnen allen hat Matthew E. White, der fantastische, zumindest hierzulande leider viel zu unbekannte Neo-Soul-Sänger, Produzent und Multiinstrumentalist aus Richmond, Virginia, nun ein Album gewidmet.

Die USA - das Land, in dem jeder weiß, wie man Henkersknoten knüpft

Eine 18-minütige Suite eher. "Only in America" heißt sie, mit etwas sarkastischer Rauflust, und beginnen tut sie mit einem wunderschön schwülstigen "Prelude". Geigenschmeichelig, flötenlieblich, sehr sanftes Bläserblech und damit also direkt ein feiner Kontrast zum Text: "We've done our best to turn our back, learned by heart the ways to tie a noose / Even I heard how, and I was born in 1982." Wir haben uns wirklich mit aller Kraft abgewandt und voller Leidenschaft gelernt, wie man Henkersknoten knüpft. Selbst er, White, wisse, wie das geht - und er sei 1982 geboren.

Dann geht es um den american dream, dessen Lied durch den Süden weht - "Blut an den Händen und Blut am Mund". Die USA haben auch da, bei der musikalischen Verarbeitung des Hasses, ihre eigene Historie. Police Brutality ist im (schwarzen) Amerika ja nicht einfach nur Alltag, sie ist Teil der Identität der Menschen, wenn nicht sogar ihrer DNA. Deswegen ist die Geschichte der Polizeigewalt auch so tief in die Musik eingeschrieben.

"Bitter Fruit" zum Beispiel, das Abel Meeropol 1937 verfasste und vertonte und das die Jazzsängerin Billie Holliday zwei Jahre später als "Strange Fruit" aufnahm. Seltsame Früchte hängen in diesem schwülen, klaustrophobischen Lied über die Lynchmorde an Schwarzen von den Pappeln, schaukeln in der "Brise des Südens" und tränken die Blätter und Wurzeln in Blut.

Marvin Gayes "What's Going On" zum Beispiel auch. Und später dann natürlich der Rap: 1988 erschien die Single "Fuck tha Police" der Gruppe N.W.A., die in Compton, einem Schwarzenviertel im Süden von Los Angeles, das Genre des Gangsta Rap begründeten. Ein paar Jahre später schloss der New Yorker KRS One den historischen Kreis mit seinem Song "Sound of da Police", in dem er die beiden Wörter "Officer" (Polizeibeamter) und "Overseer" (wie die Wächter auf den Plantagen der Sklavenherren genannt wurden) phonetisch verschmelzen ließ.

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Auf "Only in America", zu dem es auch einen Kurzfilm des bildenden Künstlers Hampton Boyer gibt, übernimmt den Part der Verstörung der Künstler Lonnie Holley. Der 72-Jährige erschafft im Hauptberuf Skulpturen aus Unrat, den er in seiner Heimatstadt Birmingham, Alabama, aufliest. Als er vier Jahre alt war, soll die Frau, die ihn informell adoptiert hatte, ihn gegen eine Flasche Whisky eingetauscht haben. Das Portal Pitchfork schrieb einst, er sammle unsere hässlichsten, obskursten Objekte "und verwandelt sie in einzigartige Reflexionen über unsere problembehaftete Welt". Das kommt ganz gut hin.

Hier gibt Holley den straßenlädierten Panikboten. Greller, schlaglichthafter News-Wahnsinn: "Habt ihr gesehen, was in der Hood passiert ist", "What the hell / What the hell", "Nur in Amerika sehe ich meine Großeltern weinen".

"Wir werden um Vergebung flehen": Hampton Boyer and Matthew E. White. (Foto: Dylan Rozelle)

Dann schwebt alles in einem sanft dissonanten, orgelflächigen Outro davon: "When the curtains of this night are peeled back / And it's clear what we threw on the pyre", säuselt White, ganz sanft, aber dadurch sickert es umso giftiger ins Gewissen, "we will shout for forgiveness / For all bearing witness / Or flagrantly fanning the fire". Wenn am Morgen die Erkenntnis kommt, was wir im Schutz der Nacht alles auf den Scheiterhaufen geworfen haben, werden wir um Vergebung flehen. Wir haben es ja alle gewusst - oder ganz entspannt mit angefacht.

Und dann, wie um das Pathos schnell wieder einzufangen, eben die Widmung. "This song's for Walter Scott / This song's for Emmett Till / This song's for Philando Castile / This song's for Sandra Bland, Stephon Clark and Freddie Gray."

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