Eine Banlieue im Pariser Nordosten, weit draußen an der Peripherie - ist das ein Ort für die großen Geschichten? Der Besitzer einer Reinigung schlägt sich mit der Depression seiner Frau herum; seine illegale Hilfskraft fürchtet die Ausweisung; die hübsche Apothekerin gegenüber hat zwei Töchter und mal wieder keinen Mann. Am winzigen Reihenhaus bei den Bahngleisen rauscht der RER vorbei, der Garten ist verwildert. Eine Affäre nimmt ihren Lauf.
Wie aus diesen bescheidenen Grundstoffen mitreißendes Kino entsteht, emotionale Hochspannung, Menschen vor existenziellen Entscheidungen, die man mit pochendem Herzen bei jedem ihrer Schritte begleitet, eben ein Filmwunderwerk wie "Le Passé" - daran kann man nun fast exemplarisch jene Alchemie des Erzählens studieren, an der sich im Grunde alle Regisseure versuchen, und die doch nur die Meister unter ihnen beherrschen.
Ein solcher ist der iranische Filmemacher Asghar Farhadi ganz ohne Frage. Was spätestens seit seinem Film "Alles über Elly" zu spüren war, und endgültig unbestreitbar nach "Nader und Simin - eine Trennung", für den er dann auch einen goldenen Berlinale-Bären, einen Golden Globe und einen Oscar gewann.
Nun hat Farhadi erstmals in einem fremden Land gedreht, in Frankreich, und erstmals nicht in seiner Muttersprache - was aber keinen Unterschied macht. Das restlose Fehlen alles Touristischen oder Französelnden in diesem Film - das wirkt dann fast wie der Vorschein einer kommenden Zivilisation der Weltbanlieues, in der die Vororte von Teheran und Tunis direkt an jene von Paris oder London anschließen.
Alles Wichtige ist bereits passiert
Was aber macht ein großer Erzähler, wenn er in einem solchen Milieu ankommt? Die erste Erkenntnis ist schon mal die: Er steigt spät ein. Sehr spät, fast schon in allerletzter Minute. Eben nicht bei der Affäre zwischen dem Wäschereibesitzer Samir (Tahar Rahim) und der Apothekerin Marie (Bérénice Bejo), wie sie sich vielleicht vorsichtig und zaghaft entwickelt, bevor sie eine düstere Wendung nimmt. Denn das wäre erwartbar.
Der Film heißt nicht umsonst "Le Passé - Das Vergangene". Alles Wichtige ist bereits passiert, unwiderrufliche Dinge sind geschehen. Die Lage ist die: Samirs Frau liegt nach einem grausam demonstrativen Selbstmordversuch im Koma, Samir und sein kleiner Sohn wohnen bei Marie und ihren beiden Töchtern, und diese ist wieder schwanger. Ein neues Leben soll beginnen und wird doch fast erdrückt von den ungeklärten Schuldfragen des alten.
Doch wie springt ein großer Erzähler da einfach hinein, in so einen Dampfdruck-Kochtopf der Gefühle, ohne dass man als Zuschauer sofort die Übersicht verliert? Denn während das Gegenwärtige passiert und eskaliert, muss das Vergangene ja überhaupt erst noch enthüllt werden. Die zweite Erkenntnis ist: Man schafft sich einen Stellvertreter, der die richtigen Fragen stellen kann: Jene, die sich auch den Zuschauern sofort aufdrängen - und jene, mit denen man als Schöpfer dann auch seine eigenen Figuren konfrontieren will.
Dieser Stellverteter ist Ahmad (Ali Mosaffa). Er kommt aus Teheran, er hat einmal mit Marie in Paris zusammengelebt, er ist sogar ihr Ehemann, und ihre beiden Töchter lieben ihn noch immer - obwohl sie nicht von ihm sind. Jetzt soll die Scheidung durchgezogen werden, das ist der Grund seines Kommens.
Mit seiner Ankunft in Paris beginnt der Film, in einer bemerkenswerten Flughafen-Sequenz, die eigentlich ein kleiner Stummfilm ist: Das Wiedersehen dieses Paares nach vier Jahren, noch getrennt durch eine Glasscheibe im Ankunftsbereich.
Er lächelt ein bisschen zu aufgesetzt und siegesgewiss, als er sie sieht. In ihrem Gesicht spielt sich in einer Sekunde noch mal die ganze Geschichte ab: Wärme, Reminiszenz, die schönen Momente, die Liebe - sofort gefolgt von der Erinnerung an die Unmöglichkeit, mit diesem Mann zusammenzuleben. Wer solche Sekundendramen in die Gesichter seiner Schauspieler zaubern kann, hat die Alchemie fast schon gemeistert.
Und dann wird dieser Ahmad, der ein großer Reparierer und Wieder-in-Gang-Bringer und Mediator ist, der sich mit gleichem Eifer auf die hängende Fahrradkette, auf den verstopften Abfluss und die eingefrorene Beziehung zwischen Mutter und Tochter stürzt, eine Art Detektiv der Gefühle.
Er wird es herausfinden
Er weiß nicht, in was er da hineingeraten ist, aber er wird es herausfinden. Als Erstes fragt er sich, was eigentlich in die ältere Tochter Lucie (Pauline Burlet) gefahren ist, die wie ein fahles Gespenst der Verweigerung durch das Haus schleicht, voller Hass auf die geplante Ehe und den neuen Mann. Doch so einfach ist es natürlich nicht, ihr Verhalten hat noch ganz andere Gründe - und je mehr Ahmad diesen auf die Spur kommt, desto gebannter verfolgt man die Verstrickungen, die schließlich zu dem Selbstmord geführt haben.
Detektiv der Gefühle, das wäre dann auch keine schlechte Beschreibung für den Erzähler Asghar Farhadi. Seine Filme, die oft große und komplexe Figurenkonstellationen haben, arrangiert er gern um ein fast alltägliches Ereignis herum, das zugleich ein Geheimnis ist, das ergründet werden muss: Warum ist die stille Elly aus "Alles über Elly", die den Ausflug einer Freundesgruppe ans Kaspische Meer mitgemacht hat, plötzlich verschwunden? Oder dieser Sturz und die Fehlgeburt einer tiefreligiösen Hausangestellten in "Nader und Simin", durch den zwei Familien in eine Fehde verstrickt werden - wer war wirklich Schuld daran?
Wie Farhadi diese Fragen verfolgt und auflöst, gibt seinen Filmen ihren unnachahmlichen Drive. Aber zugleich verliert er keine seiner Figuren dabei aus den Augen - noch die Kinder sind bei ihm überzeugende, vollständige Persönlichkeiten. Fast am wichtigsten jedoch: Alle haben bei ihm ihre Gründe, die verständlich sind, nachvollziehbar, auf keinen Fall böse. Denn Bosheit brauchen sie gar nicht mehr, die Meistererzähler, damit das Unheil seinen Lauf nehmen kann.
Le passé , F 2013 - Regie, Buch: Asghar Farhadi. Kamera: Mahmoud Kalari. Mit Bérénice Bejo, Tahar Rahim, Ali Mosaffa, Pauline Burlet. Camino, 125 Min.