Tanz:Komet über Hamburg

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Diesen Mann muss man sich merken: Choreograf Kyle Abraham. (Foto: Peter Hönnemann)

Kyle Abrahams getanztes "Requiem" zeigt auf Kampnagel, warum er der Choreograf der Stunde ist.

Von Dorion Weickmann

Pittsburgh ist auf der Weltkarte der Kunst bereits prominent vertreten. Mr. Pop-Art alias Andy Warhol wurde hier geboren, ebenso Gene Kelly, der die MGM-Musicals zum Steppen brachte. Nun wird man sich einen weiteren Namen merken müssen: den des Choreografen Kyle Abraham, 1977 in der US-Metropole geboren, derzeit noch Debütant auf dem internationalen Parkett. Insofern haben Hamburgs Kampnagel-Intendantin Amelie Deuflhard und ihr Sommerfestival-Chef András Siebold goldrichtiges Gespür bewiesen, als sie Abraham und seine elfköpfige Kompanie A.I.M. einluden, ein neues Stück zu entwickeln. "Requiem: Fire in the Air of the Earth" fusioniert Mozart und Rave, mixt Ballett, Jazz und Modern Dance - ein Hybrid, das Traditionslinien in Zukunftsvektoren verwandelt.

Kein Zufall, dass ausgerechnet einer wie Abraham so etwas zustande bringt. Der Mann hat einen anderen Hintergrund als die meisten Tanzkreativen, die im Klassischen unterwegs sind: Er gehört zur immer noch kleinen Black Community in der Ballett-Diaspora, zur Künstler-Vorhut, die Einlass in die Hochburgen der weißen Kultur erlangt hat. In Abrahams Fall heißt das: drei Arbeiten fürs New York City Ballet, demnächst Premiere beim Royal Ballet in London. Wenn die genauso bezwingend ausfällt wie das Hamburger "Requiem", wird das Opernhaus in Covent Garden Kopf stehen.

Luftig wie Giles Deacons seidenweiße Kostüme fallen sämtliche "Requiem"-Episoden aus. Wo der Modedesigner mit Tutu, Rüschenschößchen und Puffärmeln spielt, zitiert Kyle Abraham die Signaturen historischer Stile und Tanzepochen: höfische Posen und romantische Pas de deux, Rokoko-Galanterien und liebreizende Ménages-à-trois. Doch das Amüsement ist nur hübsches Beiwerk am Wegesrand, bevor der Tod die Leiber erzittern lässt. "Requiem" holt das Sterben mitten ins Leben hinein, taucht es ins Chiaroscuro einer Sonnen-Corona auf der ansonsten dunklen Bühne. Außer Mozarts Komposition, von der Musikproduzentin Jlin elektronisch ins 21. Jahrhundert transponiert, ist der Strahlenkranz der einzige Verweis auf die Pandemie, die in Abrahams Wahlheimat New York besonders grausam gewütet hat.

Der Abend spiegelt die US-Tanzikonografie mitsamt ihren Legenden. (Foto: Peter Hönnemann)

Vom Ansatz her springt die Choreografie zwischen Tutti-, Duett- und Solopassagen hin und her. Kettendrehungen, die blitzschnell dahinkreiseln und einzelne Tanzelemente verbinden, halten die Inszenierung genauso am Laufen wie rasante Stimmungswechsel. Die Tänzer balancieren barfuß durch die existenzielle Versuchsanordnung, stürzen sich in Ekstase, touchieren die Trauer mit ausschwingenden Armen. Sie lassen sich in die Musik hineinfallen, so undramatisch wie virtuos, und glänzen mit phänomenaler Vielseitigkeit. Recht besehen spiegelt der Abend die US-Tanzikonografie mitsamt ihren Legenden: die Ausdrucksemphase einer Martha Graham, das schwarze Tanztheater von Arthur Mitchell oder Alvin Ailey, filigrane Eleganz à la Merce Cunningham und Balanchines kristalline Ballettetüden.

Abraham ist kein Autodidakt, sondern ein gut ausgebildeter Allrounder. Ein Profi, der ein kurzes Gespräch nach der Probe genauso freundlich absolviert wie einen Zoom-Termin Tage später - "ich habe keinen Jetlag, weil ich immer schlecht schlafe". Und zwar seit seiner Kindheit, die er in einem musischen Elternhaus und einem eher lauschigen Neighborhood von Pittsburgh verbringt. Der Schulbus shuttelt ihn und sein Cello täglich ins Zentrum, wo Straßengangs das Sagen haben. Die Schwester bringt ihm Hip-Hop bei, es folgt eine Phase als Rave-Kid, dann der Sprung ins Musicalfach - "so hat eins das andere ergeben." Zuletzt kommt das Tanzstudium in New York, das ihn mit der ganzen Breite des Gegenwartstanzes vertraut macht und 2006 in die A.I.M-Gründung mündet. Die Truppe bezieht sowohl staatliche Gelder als auch privates Sponsoring im Gegenzug für ein überzeugendes Konzept. Abrahams Ästhetik koppelt sich nicht vom Alltag ab, seine Stücke öffnen immer auch gesellschaftliche Sichtachsen. Das ließ sich schon an der allerersten Arbeit ablesen, die er 2016 in Berlin präsentierte: "Pavement" erzählt von Polzeigewalt und jugendlicher Revolte, packt Lust und Frust des Heranwachsens in eingängige Bilder.

Er will kein schwarzer Alibichoreograf im mehrheitlich weißen Ballettmilieu sein

Dass er auch anders kann, hat der Vierundvierzigjährige gerade mit "When we fell" bewiesen, einer poetischen Elegie für das New York City Ballet: Ballerinen im Spitzenschuh vor der Kulisse des Lincoln Center, alles streng schwarz-weiß gehalten. Es war sein künstlerisches Auftauchen aus dem Corona-Tal. Was nimmt er mit aus der Krise? "Erstens sollten wir uns auf das konzentrieren, was geht, statt auf die Hindernisse zu starren. Und zweitens die Verluste wahrnehmen." Aus dieser Idee entstand "Requiem", obwohl ihn der Stoff schon seit dem Tod seiner Eltern vor einigen Jahren begleitet hat.

Abraham lebt in Brooklyn, zwischen zwei Parks, vielen Künstlerkollegen und zwei Ecken von Spike Lees Filmstudio entfernt. Dass er immer mehr Abstecher in die Welt machen wird, hat mit seinem steigenden Kurswert zu tun. Wobei er seinerseits Wert darauf legt, kein Platzhalter zu sein: kein schwarzer Alibichoreograf im mehrheitlich weißen Ballettmilieu. Sondern ein Könner, ein nachdenklicher und differenzierter Typ, der spannende Körpernarrative entwirft. Wer das Hamburger "Requiem" gesehen hat, wird daran keinen Augenblick zweifeln.

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