Die 1600 Werke haben einen weiten Weg hinter sich. Nicht unbedingt in Kilometern, aber wenn man all die Hürden, Wendungen und Jahre betrachtet, die es gekostet hat, bis die Bilder der Sammlung Gurlitt in der Schweiz ankamen, liegt eine beachtliche Strecke hinter ihnen. Nun sind sie also angekommen in der Hodlerstrasse in Bern, nicht nur physisch, sondern so richtig, und man kann sogar sagen: In dieser an Aufregern nicht armen Geschichte erfolgt selbst ihre Ankunft in der beschaulichen Schweizer Hauptstadt mit einem Knall.
Vor wenigen Tagen hat das Kunstmuseum Bern mitgeteilt, wie es mit der heiklen Sammlung umgehen will, die Cornelius Gurlitt, der 2014 verstorbene Sohn des NS-Kunsthändlers Hildebrand Gurlitt, dem Haus vermacht hat. Das Museum hat die Bilder in Farben eingeteilt: Grün für Werke, die frei von NS-Raubkunstverdacht sind, Gelb für Werke mit ungeklärter Provenienz und Rot für eindeutige Fälle von Raubkunst. Die roten Werke, neun insgesamt, sind lange bekannt, waren nie in Bern und wurden bereits von Deutschland restituiert. Die große Mehrheit der übrigen Bilder fallen in die gelbe Kategorie: mehr als 1100 Werke. Um den Umgang damit zu systematisieren, hat Bern noch die Schattierungen Gelb-Grün (lückenhafte Provenienz, aber keine Belege oder Hinweise auf NS-Raubkunst) und Gelb-Rot (lückenhafte Provenienz, aber Hinweise auf Raubkunst) eingeführt.
Das Kunstmuseum Bern gibt fünf verdächtige Werke an Deutschland zurück
Dem Museum, das die Annahme der Erbschaft in einer Vereinbarung mit der Bundesrepublik und mit dem Bundesland Bayern geregelt hat, wurde bei den Werken ungeklärter Herkunft ein Wahlrecht eingeräumt. Es kann also Bilder wieder an Deutschland zurückzugeben. Nun hat Bern entschieden: Es gibt das Eigentum an den 29 gelb-roten Werken auf, "sofern kein Forschungsbedarf mehr gegeben ist, keine Ansprüche gestellt werden und keine potentiell Berechtigten ersichtlich sind". In Zahlen: Fünf Werke gehen zurück nach Deutschland. Von den 24 übrigen gelb-roten Werken bleiben 22 zur weiteren Erforschung in Bern. Bei diesen fordern mögliche Erben die Rückgabe, oder das Museum hat Hinweise auf Raubkunst und sucht selbst nach möglichen Erben.
Zwei Werke, und das ist das Bemerkenswerte an der Berner Mitteilung, sollen restituiert werden: "Dompteuse" (1922) und "Dame in Loge" (1922), beides Aquarelle von Otto Dix. Das Kunstmuseum plant, die Bilder gemeinschaftlich den Erben des 1934 verstorbenen jüdischen Rechtsanwalts Ismar Littmann aus Breslau und den Nachfahren des Breslauer Zahnarztes Paul Schaefer, gestorben 1946, zu übergeben. Wie das Museum betont, ist die Provenienz beider Werke höchst lückenhaft, die Erkenntnislage erreiche in beiden Fällen "nicht annähernd eine justiziable Beweisdichte". Trotzdem habe man sich aufgrund "einer Indizienlage von hinreichender Substanz" für die Rückgabe entschieden - eine Entscheidung "im Geiste" der Washingtoner Prinzipien.
Diese 1998 erarbeiteten Richtlinien zum Umgang mit NS-Raubkunst haben mehr als 40 Staaten unterzeichnet, darunter auch die Schweiz. Unter anderem verpflichten sich diese Länder, "gerechte und faire Lösungen" mit den Nachfahren geschädigter jüdischer Sammler zu finden. Mit der jüngsten Ankündigung geht das Kunstmuseum Bern ziemlich weit - für Schweizer, aber auch für deutsche Verhältnisse.
Zur Erinnerung: Der Fall Gurlitt hat die Debatte um NS-Raubkunst im deutschsprachigen Raum ja erst so richtig ins Rollen gebracht. Die spektakuläre Entdeckung einer enormen Kunstsammlung in Schwabing im Jahr 2012, der Raubkunstverdacht, der sofort auf dieser Sammlung lastete, die verstolperte Erforschung der Herkunft der Bilder, das Gezerre um die Sammlung nach dem Tod von Cornelius Gurlitt 2014 und schließlich ihre langwierige Reise nach Bern: Der Krimi um Gurlitt hat gezeigt, dass Deutschland bei der Aufklärung von NS-Kunstraub noch viel zu lernen und zu tun hat - auch wenn die Gurlitt-Sammlung letztlich nicht die gewaltige Raubkunst-Sammlung ist, für die man sie anfangs hielt.
Andere Museen wie das Kunsthaus in Zürich stellen sich in Bezug auf Raubkunst taub
Inzwischen hat die deutsche Beschäftigung mit Raubkunst zugenommen, und seit 2015 gibt es mit dem Deutschen Zentrum Kulturgutverluste eine zentrale Anlaufstelle für NS-Kunstraub-Fragen. Aber viele Beobachter und auch Nachfahren von geschädigten Sammlern selbst geben an, dass die Zusammenarbeit mit deutschen Museen und Behörden oft schwierig, dass die Bereitschaft, problematische Werke zurückzugeben, gering sei.
Nun ist Bern mit der Rückgabe zweier Werke ohne eindeutige Belege vorgeprescht. Die gemeinschaftliche Rückgabe der Dix-Aquarelle an zwei Familien ist eine kreative Lösung für eine Geschichte, die man wohl nicht mehr vollständig wird aufklären können. Und Bern belässt es nicht bei der Erforschung der Gurlitt-Bilder: Die 2017 gegründete Provenienzabteilung des Museums hat angefangen, auch die übrigen Bestände des Museums systematisch zu durchforsten. Der Medienmitteilung zufolge läuft derzeit die Suche nach möglichen Erben dreier Werke von Matisse, Kirchner und Slevogt. Eine Ironie der Geschichte sozusagen: Die an Raubkunst eher arme Gurlitt-Sammlung hat in Bern die aktive Suche in der eigenen Sammlung ausgelöst - was am Ende zu deutlich mehr Rückgaben führen könnte als die Erforschung der Gurlitt-Bilder selbst.
Vor allem in der Schweiz setzt das Kunstmuseum damit neue Maßstäbe. Denn dort sind auch Dinge umstritten, die in Deutschland längst ausdiskutiert sind: etwa, ob auch sogenanntes Fluchtgut als Raubkunst zu werten ist, also Werke, die NS-Verfolgte verkaufen mussten, um zu überleben oder ihre Flucht zu finanzieren. Bern hat sich mit der Übernahme der Gurlitt-Bilder verpflichtet, jegliches "NS-verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut" als Raubkunst zu werten.
Diese Positionierung sticht vor allem im Vergleich mit Zürich ins Auge. Dort hat das Kunsthaus kürzlich die umstrittene Sammlung des Waffenhändlers Emil Bührle als Dauerleihgabe übernommen und stellt sich in Bezug auf Raubkunst ziemlich taub - dabei gibt es auch dort Rückforderungen.
Nun kann man mit einigem Recht sagen: Das Berner Kunstmuseum - wie das Zürcher Kunsthaus weitgehend öffentlich finanziert - kann vor allem deshalb so großzügig sein, weil es eine hübsche Sammlung und auch Geld geerbt hat, weil Deutschland große Teile der Provenienzforschung übernommen und finanziert hat, und weil die Bundesrepublik den Bernern auch Hilfe bei möglichen Rechtsstreitigkeiten zugesichert hat. Eine sehr weitgehende Policy bei minimalem Risiko also.
Marcel Brülhart, der als Stiftungsrat des Berner Kunstmuseums die Annahme des Erbes begleitet und organisiert hat, widerspricht: "Wir gehen trotzdem erhebliche Risiken ein mit unserer Haltung." Man sei schließlich mit Museen und Stiftungen weltweit vernetzt, ihnen allen gegenüber werde Bern sich rechtfertigen müssen. "Wir hätten es uns auch einfach machen können und sagen: Es ist zu wenig, wir können die Werke nicht herausgeben."
Ob die Berner Position nun zum neuen Schweizer Standard wird, muss die Zukunft zeigen. Das Museum zeigt jedenfalls eine weitere Möglichkeit von "gerechten und fairen Lösungen" auf. Davon könnten sich einige Museen, nicht nur in der Schweiz, etwas abschauen.