100. Geburtstag von Joseph Beuys:Mehr Staudenpflanze als Schamane

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Beuys schuf die Grundlage für die aktivistische Kunst von heute. Es ist ein Jammer, dass die Ausstellungen, die sein Werk jetzt zeigen, wohl gleich wieder schließen müssen.

Von Catrin Lorch

Man hätte ja nicht damit gerechnet, ihm direkt gegenüberzustehen. Doch das ist er, unzweifelhaft - der Hut, die Anglerweste, die riesigen Augen. Joseph Beuys. Das K20, das Haupthaus der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, hat die Filmprojektionen wie ein Eingangstor im großen Saal im Erdgeschoss montiert. Erst das Porträt, fast ein Brustbild, das Lutz Mommartz im Jahr 1969 vom noch jungen Künstler aufgenommen hatte. Und dann direkt die beiden Filme, die seine wohl bekanntesten Aktionen dokumentieren: "Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt" und "I like America and America likes Me".

Es sind alte, körnige Aufnahmen. Und vor dem Breitwand-Auftritt für einen Kojoten und einen Schamanen fragt man sich schon, ob irgendeiner, der damals an der Aktion beteiligt war, damit gerechnet hat, dass der kurze Film noch knapp ein halbes Jahrhundert später aufwendig in Museen aufgeführt wird. Irgendwie gehen die meisten Beteiligten im Mai 1974 so geschäftsmäßig zur Sache, als nähmen sie jede Woche einen deutschen Künstler am Flughafen in Empfang, der sich vor der Ankunftshalle in eine dunkle Decke wickeln und auf eine Trage geschnallt in einem Krankenwagen zum West Broadway fahren lässt.

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Zum 100. Geburtstag widmen verschiedene Städte dem Aktionskünstler Ausstellungen. Ein Veranstaltungskalender.

Immerhin wirkt Beuys angemessen verwirrt, tastet sich wackelig durch die Galerie von René Block hinter das Gitter, das den kleinen Raum zerteilt. Den Krummstab fest in der Hand bietet er dem dort verstört herumschnüffelnden Kojoten ein paar Bissen an. Vier Tage lang werden sie sich anfreunden - der Europäer und der amerikanische Wolf, der für die Indianer ein mythisches Tier ist.

Man sollte meinen, dass so ein alter, pathostriefender Auftritt heute nicht mehr so richtig gut aussehen kann. So viele weiße Männer, das gestresste Tier. Dazu der Verweis auf die Indigenen, mit denen sich Beuys ungefragt verbünden will. Da kommt einiges zusammen. Doch irgendwie geht das alles überraschend auf. Weil der Künstler am Flughafen genauso verloren wirkt wie jeder Tourist. Der in seine Decke gerollte Mann mehr an eine Staudenpflanze erinnert, denn an einen Schamanen. Die Reise, auf der Beuys New York einfach ausblendet, scheint dafür schon viel von der Skepsis zu formulieren, mit der man im Jahr 2021 auf globale Kunst-Unternehmen schaut, auf Kulturaustausch, Gipfelbegegnungen und - auch das - autoritär auftretende Männer.

Die Ausstellung "Jeder Mensch ist ein Künstler. Kosmopolitische Übungen mit Joseph Beuys" in der Kunstsammlung ist eine der ersten Ausstellungen in diesem Frühjahr zum Wirken von Joseph Beuys. Am 12. Mai in Krefeld geboren hätte er in diesem Jahr seinen hundertsten Geburtstag gefeiert. Und einen zeitgenössischeren Auftakt hätte man sich kaum wünschen können in Düsseldorf, das so lange der Nukleus dieses Werks war, wo Joseph Beuys an der Akademie studierte, lebte, lehrte und arbeitete. Die Ausstellung zeigt ausschließlich Filme, Dokumentationen, Fotografien und Textfragmente des Künstlers, die sie mit Werken einer jüngeren, politischen Generation von aktuellen Künstlern wie Pope L, Phyllida Barlow oder Goshka Macuga zusammenbringt - aber auch mit Aufnahmen von Edward Snowden oder Greta Thunberg. Weil es diesem Künstler, so heißt es im Katalog, noch bevor er ansetzte, die Kunst zu verändern, um eine Erneuerung der Gesellschaft ging.

Mit zutiefst politischen Performances legte Beuys wie nebenbei auch formal die Grundlage für die zeitgenössische aktivistische Kunst, die heute Konjunktur hat auf Biennalen oder Documenta-Ausstellungen. Beuys, das wird vor allem in der Rückschau unzweifelhaft, war der erste Künstler überhaupt, dem die Gesellschaft mehr war als Publikum, Einzelschicksal, Adressat. Er legte - dem Gedanken der sozialen Plastik folgend - Hand an die Verhältnisse. Indem er eine Stadt wie Kassel "verwalden" ließ mit seiner Aktion der "7000 Eichen" oder sich als Professor an der Akademie weigerte, Studenten abzuweisen. Wobei er nie als Reformer argumentierte, sondern stets als Bildhauer, der mit Materialien arbeitet, mit Aggregatzuständen oder Kräfteverhältnissen.

Dass in dieser Woche fast zeitgleich in der Stuttgarter Staatsgalerie unter dem Titel "Joseph Beuys. Raumkurator" Vernissage gefeiert wird, gibt dem Publikum die Möglichkeit, schon einmal die Weite und auch die Wucht dieses Oeuvres zu erleben. Ausgehend von dem "Beuys-Raum", den der Künstler zur Eröffnung des Stirling-Baus im Jahr 1984 einrichtete und der bis heute unverändert bestehen blieb, geht es um den "Raumkurator", der, wenn er seine Werke selbst aufbaute, stets den installativen Zusammenhang suchte. Im Katalog zeigen Fotografien, wie Beuys wohl tagelang geknickte Rohre, Fettklumpen und Möbel immer wieder neu arrangierte. Doch markiert der Beuys-Raum auch den Moment, in dem der Künstler das Museum als Ort endgültig aufgab - um bis zu seinem Tod im Jahr 1986 an solchen monumentalen Projekten wie den "7000 Eichen" für die Kasseler Documenta zu arbeiten.

An Einfluss kommt ihm im 20. Jahrhundert nur Marcel Duchamp gleich

In der anstehenden Ausstellungs-Saison könnten sich viele solcher Konstellationen ergeben - immerhin sind allein in Nordrhein-Westfalen fast zwanzig Ausstellungen zu den verschiedenen Aspekten geplant. Von einer Sichtung des Frühwerks im niederrheinischen Kleve und der Ausstellung "Mataré + Beuys + Immendorff" in der Düsseldorfer Kunstakademie bis zum Verhältnis zwischen Beuys und Lehmbruck (in Duisburg und Bonn) und zum erweiterten Kunstbegriff (Essen). Es gibt Filmabende, Theateraufführungen, Symposien zum Fluxuskünstler Beuys und Vorlesungen ("Ich bin auf der Suche nach dem Dümmsten"), die von seinem Verhältnis zur Wissenschaft handeln, Radioprogramme, Podcasts und - an seinem Geburtstag - mit "Musik aus der Zukunft" eine 24-stündige musikalische Hommage.

Es ist zu hoffen, dass sich dieses Programm trotz der drohenden Museumsschließungen weitgehend entfalten kann. Denn während der vergangenen Jahre wurde der Künstler vor allem als historische Figur diskutiert - vor allem die "Lügen" in Bezug auf die in seiner Biografie wurzelnden Ursprungsmythen seiner Kunst ("Absturz über der Tundra") und eine angebliche Nähe zu ehemaligen Nationalsozialisten, die seine Kunst sammelten, und zu Anthroposophen. War das Abwehr? Der Versuch, ein so gewaltiges, ausgreifendes, hysterisch beredtes, sich über alle Medien der Kunst und der Öffentlichkeit ausbreitendes Oeuvre irgendwie wieder einzufangen?

Man wird ein Werk nicht abschreiben können, dem, wenn man seinen Einfluss bemessen will, im zwanzigsten Jahrhundert nur das von Marcel Duchamp in der Vorkriegszeit gleichkommt. Zunächst werden die gerade erst eröffneten Ausstellungen aller Voraussicht nach aber schon in der nächsten Woche wieder schließen. Dabei bergen sie nicht nur so viele Facetten, die noch aufgeschlüsselt sein wollen, sondern sie könnten - in der für Beuys so charakteristischen, anmaßenden, fast übergriffigen Zugewandtheit vor allem eins: trösten.

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