"Tick, tick ... Boom!" im Kino und bei Netflix:Tonschlusspanik

Lesezeit: 3 min

Leben, um davon zu singen: Andrew Garfield und Alexandra Shipp in "Tick, Tick...Boom!" (Foto: Macall Polay/AP/Netflix)

Die Uhr tickt: Ein Film über den Musiker Jonathan Larson, der unbedingt erfolgreich sein wollte, bevor er 30 wird.

Von Fritz Göttler

Es ist eine tolle Show, die kreativen Säfte sprudeln, jedes neue Stichwort ruft sofort tolle, poetische Sprüche hervor, manchmal sogar bitter und sarkastisch, einer versucht den anderen zu übertreffen. Eine Art Bewerbungsprobe, Jonathan soll mal erleben, wie es in der PR-Agentur zugeht, in der sein Freund Michael nun arbeitet und Erfolg hat. Kreativität ist sein Ding, und er hat eine Menge Spaß, er ist voll bei der Sache. Amerika, das ist eine freie Straße bei Sonnenuntergang, nichts im Weg als der Horizont.

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Was Jonathan wirklich will, ist Musik schreiben und machen, Songs basteln und zu einem Musical zusammenschrauben, verbessern und umschreiben, immer wieder, bis zur Erschöpfung. Erfolg haben im Showbusiness. Aber ein Geräusch macht sich langsam in ihm breit, ein Ticken, bedrohlich wie eine Bombe, an der die Lunte glimmt. Die Zeit läuft ab, und aus allen möglichen Geräuschen in der großen Stadt New York dringt dieses Ticken nun enervierend heraus. Es geht in die Neunzigerjahre des vorigen Jahrhunderts, eigentlich ein guter Moment für einen musikalischen Karrierestart, Broadway oder, wenn das nicht geht, Off Broadway.

In wenigen Tagen wird Jonathan dreißig, dann ist seine Jugend vorbei

Stop the clock: Die Geburt des neuen amerikanischen Musicals aus dem Geist der Panik. In wenigen Tagen wird Jonathan 30, dann ist seine Jugend vorbei. Stephen Sondheim, sein großes Vorbild, sein Helfer, hatte seinen ersten Erfolg vor diesem Alter. Paul McCartney hatte seine Songs geschrieben für die Beatles. Jonathans Eltern hatten zwei Kinder, gute Jobs, eine Hypothek, er kellnert im Moondance-Café, lebt armselig mit Freunden zwischen SoHo und Greenwich Village. Und macht seine eigene Erfolg(losigkeit)sgeschichte zur Show, die er einem ausgewählten Fachpublikum vorträgt.

Es ist eine hinreißende, dynamische Show, Amerika liebt seine Kids, ihre großen Visionen und ihre Misere, diese Mischung von Einsamkeit und Solidarität, Depression und Dynamik, Selbstsicherheit und Verlorenheit, Überschwang und Askese. Jons Freundin wird ein Job angeboten, dafür müsste sie in die Berkshires ziehen, einen Bergzug an der Ostküste, und auf diesen Vorschlag reagiert Jonathan natürlich erst mal mit Stirnrunzeln und Zurückhaltung.

In diesen Wochen wird wieder viel gesungen auf den Kino-Leinwänden

"Rent" heißt das Stück, mit dem der Name Jonathan Larson schließlich in der ganzen Welt bekannt wurde, eins der erfolgreichsten Stücke am Broadway, von 1996. 1990 hatte Jonathan seine Hoffnungen auf "Superbia" gesetzt, ein dystopisches Rock-Musical, und von diesem Stück erzählt er wiederum in seinem Stück "tick, tick ... BOOM!", das er als eine Art Rock-Monolog präsentiert. Lin-Manual Miranda hat es nun für Netflix verfilmt, seine erste Kinoregie, mit Andrew Garfield als Jonathan, der selber singt und am Klavier hockt und sich immer wieder einen Ruck gibt, wenn er unsicher ist oder lampenfiebrig. Mit seinem Bühnenstück "Hamilton" hatte Miranda am Broadway für einen starken Diversitätsschub gesorgt, einem Musical über Amerikas weiße alte Gründerväter, gerappt und gespielt von Nichtweißen.

In diesen Wochen wird wieder viel gesungen auf den Kino-Leinwänden, vor allem wenn es um junge Leute und junge Liebe geht, "Dear Evan Hansen" zum Beispiel (dessen Drehbuchautor Steven Levenson hat auch "tick, tick ... BOOM!" bearbeitet) oder die verrückte Geschichte um "Annette" im Film von Leos Carax, und im Dezember kommt Spielberg mit seiner neuen Version der "West Side Story".

Auch in Mirandas erstem Kinofilm gibt es Diversitätsschübe in alle möglichen Richtungen, sexuell, ethnisch, politisch. Und unaufhörlich wechseln die Ebenen der Darbietungen, zwischen Solo-Performance und durchchoreografierter Nummer. Das Wirkliche entgleitet flugs ins Imaginäre und wird so viel genauer als jede abgefilmte Realität. Das Musical ist das narzisstischste aller Genres, es kreist um die Befindlichkeit seiner Stars. Anders als die klassischen Musicals endet die Geschichte des Jonathan Larson nicht in einem großen Finale, der erlösenden Shownummer: Jonathan sammelt für seine monologische Darstellung und Songs sehr viel Lob der professionellen Zuhörer ein, aber niemand ist gewillt, die Show zu produzieren. Na gut, erklärt ihm seine Agentin, so sei das eben, also setze man sich hin und schreibe ein neues Stück. Weitermachen, statt des "Boom!" ein Dacapo. Erst mit "Rent" kommt der Erfolg, 1996, am Tag, bevor es erstmals aufgeführt wird, stirbt Jonathan Larson, 35 Jahre alt.

tick, tick ... BOOM! - Regie: Lin-Manuel Miranda. Buch: Steven Levenson, nach dem Musical von Jonathan Larson. Kamera: Alice Brooks. Schnitt: Myron Kerstein, Andrew Weisblum. Mit: Andrew Garfield, Alexandra Shipp, Robin de Jesús, Vanessa Hudgens, Joshua Henry, Ben Ross, Bradley Whitford. Netflix, 115 Minuten.

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