Jazzkolumne:Rückkehr von den Sternen

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Meisterhaft: Mark Turner (Foto: Robert Lewis/ECM)

Jazz war auch immer Kritik der Gegenwart, so wie auf Neuveröffentlichungen von Sun Ra, Theon Cross, Mark Turner und dem Jammin Colors-Label.

Von Andrian Kreye

Elon Musk war nicht der erste, der sich überlegt hat, dass man die Menschheit angesichts der irdischen Zustände lieber auf einen anderen Planeten umsiedelt. Der Pianist und Gesamtkunstwerker Sun Ra war das. Der gründete Anfang der Siebziger sogar eine "Outer Space Employment Agency", weil Arbeitslosigkeit und Elend gute Gründe waren, warum er und seine Anhängerschaft diesen Planeten verlassen wollten. Das außerirdische Arbeitsamt gab es dann zwar nur in seinem Film "Space is the Place", der neulich restauriert und von Rapid Eye Movies wieder herausgebracht wurde. Aber der Afrofuturismus, den Sun Ra damals predigte, war passend zum Zeitalter des Wassermanns vor allem eine Utopie.

Nur selten ließ Sun Ra in seinem unfassbar umfassenden Gesamtwerk durchblicken, dass er auch die Apokalypse im Blick hatte. Einer dieser Momente wurde gerade noch einmal aufgelegt. "It's After the End of the World" (MPS) war eines von sieben Alben, das der hyperproduktive Afronaut 1970 herausbrauchte. Zwei Konzertmitschnitte waren darauf. Einer vom Jazzfestival in Berlin, einer von den Donaueschinger Musiktagen. Und dass er sich mit der Avantgarde der zeitgenössischen Musik messen konnte, auch wenn die Atonalität mit seinen Zirkusinszenierungen sehr viel mehr Spaß machte, hört man auf dem Album ganz hervorragend.

Sun Ra "It's after the end of the world" (Foto: MPS)

Man kann ganze Bücher darüber schreiben, warum Jazzmusikerinnen und Jazzmusiker ein so waches politisches Bewusstsein haben. Was auch damit zu tun hat, dass der Beginn des Modern Jazz mit den Anfängen der Beatniks zusammenfiel, die ebenfalls Politik und Kultur zusammendenken konnten. Das funktioniert oft besonders gut, wenn Lyrik und Jazz zusammenfinden. Der wahrscheinlich beste Tubaspieler aller Zeiten Theon Cross hat für sein zweites Album "Intra-I" (New Soil) die Dichterin Remi Graves ins Studio geholt, die gleich im Intro den Ton für den Rest des Albums vorgibt. "The world is in a spin, world off it's axis, it spins and spins with us in it." Die Welt ist am Trudeln, sie ist aus der Spur gesprungen, sie dreht sich und dreht sich mit uns mittendrin. Graves steigert sich bis zu einem Appell an den Kampfgeist aller. Cross anderer Gig ist die Rolle des Bassinstruments in Shabaka Hutchings Sons of Kemet, die einen ähnlichen politisch-spirituellen Furor produzieren. Und weil die Besinnung auf die afrikanische und karibische Herkunft in seiner Generation auch immer ein auf die Gegenwart ist, funktioniert das musikalisch als Fusion aus Jazz, Club und Dub mit einer Schlüssigkeit, die nur wenige mit einer solchen Kraft hinbekommen.

Theon Cross "Intra-I" (Foto: New Soil)

Noch direkter findet sich der "Black Atlantic"-Gedanke auf dem Sampler "Black Lives: From Generation to Generation" (Jammin Colors). Labelchefin Stefany Calembert hat gemeinsam mit ihrem Mann dem Bassisten Reggie Washington über sechzig Musikerinnen und Musiker aus drei Kontinenten versammelt, die sich allesamt mit Identität und Rassismus auseinandersetzen. Das mit den Generationen ist sehr buchstäblich. Das reicht von Immanuel Wilkins, Markus Strickland und Christie Dashiell bis zu Veteranen wie Oliver Lake und Jean-Paul Bourrelly. Stilistisch geht das von der afrikanischen Roots-Musik bis zum Neo-Soul. Trotzdem bleibt das bei sich, weil der gemeinsame Gedanke auch ohne die gemeinsame Ästhetik trägt.

Die eigentliche Stärke des Modern Jazz war es ansonsten allerdings, die Beobachtung der Gegenwart samt Protest und Subversion zu abstrahieren. Mark Turner hat sein meisterhaftes neues Album "Return from the Stars" (ECM) zum Beispiel nach dem Science-Fiction-Roman von Stanislaw Lem benannt. Der erzählt von einem Astronauten, der wegen dem Effekt der Zeit-Dilatation bei seiner Rückkehr zur Erde 127 Jahre ausgelassen hat. Nun findet er eine utopische Gesellschaft ohne Aggression, Gewalt und Kriege vor, in der er sich erst einmal nicht zurechtfindet. Einen zeitgemäßeren Titel für diesen Moment der Gegenwart gibt es kaum, auch wenn die Wirklichkeit das Motiv genau umdreht. Sind die Humanisten doch jene, die gerade auf einen Planeten zurückkehren, der von Aggression beherrscht wird.

In genau solchen Analogien liegt die Kraft der Abstraktion, weil sie als Text schon lange nicht mehr funktionieren. Die Akribie und Virtuosität mit der Turner gemeinsam mit dem Trompeter Jason Palmer im Klavier-losen Quartett seine acht Kompositionen auslotet, bestätigen ihn einmal mehr als eine der wichtigsten Stimmen auf dem überfüllten Feld der Tenorsaxofonisten. Da sitzt jeder Ton, egal in welcher Geschwindigkeit und Dynamik. Jedes Stück ist eine in sich geschlossene Ideenfindung. Was auf dem Album mit den ersten drei Stücken in Ruhe und Klarheit noch der Utopie nachspürt, wandelt sich mit seinem Höhenflug "I'm Not Alright With That" sowie den lodernden Stücken "Waste Land" und "Unacceptable" zu genau jener abstrakten Kritik der Gegenwart, für die der Jazz immer wieder neue Ausdrucksformen gefunden hat. Und weil er ein solcher Ausnahmemusiker ist, weil er ein Album aufgenommen hat, das einen zu Gänze packt und mitzieht, bleibt bei seiner Rückkehr von den Sternen trotz allem der Funken der Utopie, der wie ein Nordstern in die Zukunft führt.

Mark Turner "Return from the Stars" (Foto: ECM)

Und dann ist da noch die Wirklichkeit, die mit dem Krieg in der Ukraine so unerträglich konkret in die Gegenwart eingebrochen ist. Die Deutsche Jazzunion, Jazzthing, Tangible Music und jazzed.com veranstalten deswegen am Donnerstag den 7. April von 18:00 Uhr bis Mitternacht im großen Saal der Universität der Künste Berlin ein Solidaritätskonzert, das man auch auf RBB und Youtube streamen kann. John Coltranes Titel "Peace on Earth" ist das Motto, und die Gästeliste lang. Lisa Bassenge ist dabei, Thomas Quasthoff, Aki Takase, Julia Hülsmann und sehr viele mehr. Hundert Prozent der Einnahmen gehen an die Ärzte ohne Grenzen in der Ukraine.

Logo des "Peace on Earth"-Benefizkonzertes am 7.4.22 in Berlin (Foto: Peace On Earth)
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