Jazzfest-Leiterin Nadin Deventer:"Der Jazz ist von einem Gleichgewicht weit entfernt"

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"Oft beziehen sich diese Kritiker ja auch auf mein Alter und meine angebliche Unerfahrenheit", sagt Nadin Deventer. (Foto: imago/Votos-Roland Owsnitzki)

Mit Nadin Deventer leitet zum ersten Mal in mehr als 50 Jahren eine Frau das Berliner Jazzfest. Ein Gespräch darüber, wie politisch Jazz ist - und wie frauenfeindlich die Szene.

Von Jan Kedves

Es kommt Bewegung in den Jazz: Abgesehen davon, dass sowohl Bands wie auch das Publikum in den vergangenen Jahren wieder jünger und hipper wurden, scheint sich auch an der viel beklagten Männerdominanz in der Szene allmählich etwas zu ändern. Jüngstes Anzeichen: Mit der 41-jährigen Kuratorin und Dramaturgin Nadin Deventer leitet zum ersten Mal eine Frau das traditionsreiche Jazzfest Berlin, das am Donnerstag beginnt. Sie will vor allem Frauen auf die große Bühne helfen - und wird von einigen alteingesessenen männlichen Szenegrößen argwöhnisch beäugt und kritisiert.

SZ: Frau Deventer, das Programm des ersten von Ihnen verantworteten Berliner Jazzfests ist in geschlechtergerechter Sprache verfasst, es ist durchgehend von Musiker*innen die Rede. War es schwer, das durchzusetzen?

Nadin Deventer: Nein, das machen wir bei den Berliner Festspielen, deren Teil das Jazzfest ja ist, schon seit einigen Jahren so. In meinem privaten Umfeld schaffe ich es noch nicht immer, jede E-Mail und SMS zu gendern. Aber in offizieller Kommunikation befürworte ich geschlechtergerechte Sprache. Weil sich mit ihr das Bewusstsein dafür schärfen lässt, dass es in der Gesellschaft immer noch eine Schieflage gibt.

Diese Schieflage wird im Jazz vielleicht besonders deutlich, wenn an einigen Spielorten Ihres viertägigen Programmes die Musiker*innen alle männlich sind...

Es gibt keinen einzigen Festivalabend ohne Frau auf der Bühne. Natürlich gibt es auch rein männlich besetzte Acts wie zum Beispiel die zwei Konzerte im Quasimodo-Club mit dem WorldService Project aus London und dem belgisch-französischen Trio Hermia / Darrifourcq / Ceccaldi. Aber 14 der insgesamt 35 musikalischen Acts sind mit relevanter weiblicher Beteiligung, und auf der Hauptbühne im Haus der Berliner Festspiele gibt es keinen Abend ohne Musikerinnen. Darauf habe ich sehr geachtet, weil die Hauptbühne immer sehr im Fokus steht. Die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche zum Beispiel ist dieses Jahr fest in Frauenhand. Dort spielen die Estin Maria Faust und die fantastische Elektronikerin und Organistin Kara-Lis Coverdale aus Kanada. Dass es im Jazz eben nicht nur Organisten, sondern auch großartige Organistinnen gibt, merkt man, wenn man eintaucht mit dem Anspruch, diese Frauen auch finden zu wollen.

Arbeiten Sie mit einer Quote?

Nein. Mir geht es in allererster Linie um Qualität - um diese magischen Momente, in denen jeder im Raum, egal wie Jazz-geschult oder ungeschult die Person ist, merkt: Hier passiert gerade etwas Besonderes. Ich achte aber darauf, dass Frauen mit einer starken Stimme im Jazz auf der großen Bühne gesehen werden. Und wir haben uns kürzlich als erstes deutsches Jazz-Festival der internationalen Initiative Keychange angeschlossen, wie übrigens auch das Hamburger Reeperbahn-Festival und das Musicboard Berlin. Keychange will bis 2022 in den Line-ups von Clubs und Festivals ein Verhältnis von 50:50 erreichen. Das ist eine Absichtserklärung. Und ambitioniert. Für ein viertägiges Festival mit 30 bis 35 Acts und Projekten pro Jahr ist es aber natürlich möglich, das zu gewährleisten.

Begegnen Sie in Ihrer Arbeit Männern, die das hohe Ideal der Freiheit im Jazz gerne so ummünzen wollen, dass der Jazz doch bitte auch frei von Gender-Debatten bleiben soll?

Klar. Mir begegnen auch Männer, die sagen: Ich hab doch gar nichts gegen Frauen! Und in meinem Kopf vervollständige ich den Satz dann: ... solange sie uns zuarbeiten. Die Schlüssel- und Führungspositionen sind nämlich nach wie vor männlich dominiert - das belegt die Studie "Frauen in Kultur und Medien", die der Deutsche Kulturrat 2016 veröffentlicht hat. Und insbesondere der instrumentale Jazz ist immer noch ein patriarchal geprägtes System. Die Union Deutscher Jazzmusiker hat in ihrer "Jazzstudie 2016" ermittelt, dass 86 Prozent der in Deutschland lebenden und arbeitenden Jazz-Instrumentalisten Männer sind. Der Jazz ist von einem Gleichgewicht weit entfernt. Es gab in Deutschland auch noch nie eine Jazz-Professorin im Instrumentalbereich - bis 2018. In diesem Jahr ist die Schlagzeugerin Eva Klesse zur Professorin in Hannover berufen worden. Und ich bin nun die erste Leiterin des Jazzfest Berlin in seiner 54-jährigen Geschichte.

Ihre Ernennung hat zu gönnerhaft altväterlichen beziehungsweise ordentlich misogynen Ausfällen geführt. Der Blog Jazzcity schreibt unter der Überschrift "Kann Nadin Berlin?" über Sie: "Aus ihrem früheren Wirkungskreis sind keine entsprechenden Leistungen überliefert" - aber, nun ja: "Warum soll nicht auch diese Kandidatin mit ihren Aufgaben wachsen?"

So etwas passiert ständig, wobei ich auch unglaublich viel Zuspruch und Unterstützung aus der nationalen und internationalen Szene aus allen Altersgruppen bekomme, ohne die ich den Job gar nicht machen würde. Derselbe Herr hat zu meiner Berufung auf seinem Blog geschrieben, es ginge ein Aufschrei durch die Szene. Wer ist diese Szene eigentlich? Den Eintrag hat er mittlerweile gelöscht, vielleicht kam da Gegenwind? Ich habe mich nicht bei ihm beschwert. Wenn ich mich darum kümmern müsste, jeden Jazz-Journalisten in Deutschland zu überzeugen oder zu besänftigen, könnte ich meinen Job nicht mehr machen. Oft beziehen sich diese Kritiker ja auch auf mein Alter und meine angebliche Unerfahrenheit.

Sie sind 41, für den Jazz also noch geradezu jugendlich ...

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Interessant ist, dass der Gründer der Berliner Jazztage im Jahr 1964, Joachim-Ernst Berendt, nur ein Jahr älter war als ich jetzt und auch George Gruntz bei seinem ersten Jazzfest Berlin im Jahr 1973 wie ich nun 41 Jahre alt war. Was ist also in der Zwischenzeit im Selbstverständnis der sogenannten Jazz-Elite geschehen? Ich glaube, dass die Skepsis weniger daher kommt, dass ich eine Frau bin, sondern da geht es um die Frage, was Qualifikation heutzutage ist. Es stimmt ja, dass ich noch nie so ein großes, repräsentatives Festival wie dass Jazzfest Berlin - mit seiner bedeutenden und langen Geschichte, auch seiner politischen Geschichte - verantwortlich kuratiert habe. Aber abgesehen davon, dass ich in den vergangenen drei Jahren schon als Produktionsleiterin bei dem Festival im engen Austausch mit meinem Vorgänger Richard Williams stand, habe ich vorher auch schon in vielen anderen kulturellen Kontexten international gearbeitet, habe kuratiert und Projekte entwickelt.

Ein klassischer neoliberaler Projekt-Lebenslauf?

Man könnte auch sagen: ein improvisierter Lebenslauf. Aber Improvisation bedeutet ja eben nicht, dass man einfach irgendetwas macht. Sondern wer improvisiert, bedient sich erst einmal eines hart antrainierten Repertoires und Regelwerks - um dann im entscheidenden Moment loszulassen und ins kalte Wasser zu springen. Das habe ich in meinem Leben immer wieder gemacht, zum Beispiel als Dramaturgin bei einem klassischen Musikfestival in Brüssel, bei der Ruhrtriennale, der Ruhr. 2010, zehn Jahre lang als Leiterin des jazzwerkruhr oder sechs Jahre als Vorstandsmitglied des Europe Jazz Network. Ich stand dabei in den letzten 15 Jahren immer mit einem Bein in der freien Szene und mit dem anderen in den Institutionen und habe versucht, Brücken zu schlagen. Im heutigen Turbo-Neoliberalismus, der ja auch im Kulturbereich herrscht, kann man eben nicht sagen: Ich mache nur Jazz. Wenn ich das getan hätte, hatte ich meine Miete nie zahlen können. Und dann wäre ich sicher auch niemals Künstlerische Leiterin des Jazzfest Berlin geworden.

Sie erwähnten die bedeutende 54-jährige, politische Geschichte des Jazzfest Berlin. Wie spiegelt sie sich in Ihrem Programm wider?

Das Jazzfest Berlin war immer ein Schaufenster des Westens, in Westberlin verortet. Eines der ersten Festivals, wenn nicht sogar das erste Festival, das über die transatlantische Brücke die großen afroamerikanischen Jazzmusiker nach Europa geholt hat. Daran will ich anknüpfen mit einem starken afroamerikanischen Schwerpunkt zu Chicago als Stadt, zum Beispiel mit dem legendären Art Ensemble of Chicago, das seit dem vergangenen Jahr wieder Konzerte spielt. Und mit einem Cluster zur Emanzipation der afroamerikanischen Musik. Da machen wir eine Zeitreise über 100 Jahre afroamerikanische Musikgeschichte, mit vier Projekten, die sich von 1918 bis 2018 exemplarisch durch diese Geschichte bewegen.

Eines dieser Projekte ist "The Harlem Hellfighters" des Pianisten Jason Moran?

Ja, er wird sich in diesem audio-visuellen Auftragswerk gemeinsam mit den Filmemachern John Akomfrah und Bradford Young der Geschichte von James Reese Europe widmen - ein afroamerikanischer Musiker, der in New York schon 1910 den legendären Clef Club gegründet hat, eine Interessens-Initiative für die Emanzipation der afroamerikanischen Musiker. 1910! Dieser James Reese Europe hat sich im Ersten Weltkrieg freiwillig zur Armee gemeldet und wurde zu einem der wenigen afroamerikanischen Offiziere - zu einer Zeit, als die Segregation in den USA noch so stark war, dass es fast unmöglich war, überhaupt ein afroamerikanisches Bataillon unter der amerikanischen Flagge kämpfen zu lassen. Er ist in Frankreich gelandet, dort mit seiner Militärkapelle als Teil des Regiments der sogenannten "Harlem Hellfighters" aufgetreten und hat so seine sehr spezielle Art, Ragtime zu spielen, nach Europa gebracht. Bis zu 50 000 Zuhörer feierten die Band bei einem Konzert in Paris. Er ist eine sehr wichtige Figur für die Entwicklung einer eigenen afroamerikanischen Sprache und für deren Ankommen in Europa.

Sie haben auch die aktuelle gefeierte Berliner Ausstellung des afroamerikanischen Künstlers Arthur Jafa mit ins Programm des Festivals genommen. Er beschäftigt sich in seinen Arbeiten stark mit Jazz und sagt: Afroamerikanische Musik war die wichtigste kulturelle Neuerung des 20. Jahrhunderts.

Das sagt auch Martin Luther King. Er hat 1964 ein Geleitwort zum allerersten Jazzfest geschrieben, mit dem ich mich noch einmal intensiv auseinandergesetzt habe. Wie er darin die Kraft dieser Musik beschreibt und den ganzen struggle um Gleichberechtigung ... Jazz war immer eine höchst politische Kunstform. Eigentlich hätte ich diesen Text eins zu eins für das diesjährige Festival nehmen können. Natürlich leben wir in einer anderen Zeit. Aber was gerade wieder passiert in unseren Gesellschaften, nicht nur in den USA ... Da merkt man leider, dass eigentlich noch gar nichts erledigt ist. Dieser kulturelle Rollback, dieser ganze Nationalismus, die Polarisierung. Es ist ja das Allerschlimmste, wenn die Gesellschaft droht auseinander zu brechen und keine Bereitschaft mehr besteht, sich gegenseitig zuzuhören.

Und im Jazz - und beim Hören von Improvisation - lässt sich die Erfahrung machen, wie es ist, erst einmal nur zuzuhören? Ohne zu wissen, was einen erwartet, und ohne die Erwartung, alles sofort zu verstehen?

Richtig. Das wäre vielleicht eine aktuelle politische Dimension von Jazz und Improvisation.

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