Illegale Arbeiter in Italien:Eine Unterschicht unterhalb aller Unterschichten

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Überall auf dem offenen Land, hier in Süditalien, stößt man auf improvisierte Hütten, in denen augenscheinlich "irregolari" wohnen. (Foto: Tony Gentile/REUTERS)

In Italien ist eine Debatte um die "Irregolari", die Illegalen, entbrannt. Sie schuften in Tomatenfeldern, leben jenseits aller Menschenrechte - und sterben. Wer profitiert von ihnen?

Von Thomas Steinfeld

In der Gegend der apulischen Stadt Foggia stieß am vergangenen Montag ein Kleinbus mit einem Lastwagen zusammen. Die meisten Insassen des Busses mit bulgarischem Kennzeichen starben: zwölf schwarze Erntearbeiter, die nach einem langen Tag in den Tomatenfeldern in ihre Behausungen zurückkehren wollten. Zwei Tage zuvor hatte es in derselben Gegend einen ähnlichen Unfall gegeben, mit einem vollbesetzten Kastenwagen. Dabei starben vier Arbeiter. Papiere besaß keiner von ihnen. Matteo Salvini, der Innenminister von der fremdenfeindlichen Lega, reiste daraufhin in den Süden und versprach, mit dem System der illegalen Erntearbeit aufzuräumen. Sein Kollege Luigi di Maio vom Movimento Cinque Stelle, der Minister für wirtschaftliche Entwicklung, kam ebenfalls in den Süden und erklärte, die Zahl der Inspektoren erhöhen zu wollen.

Die Ankündigungen klingen sonderbar: Denn das Treiben dieser hauptsächlich aus Afrika stammenden Arbeiter findet keineswegs im Verborgenen statt. Wer in Süditalien über das Land fährt, vorbei an den riesigen, meist mit transparentem Kunststoff überspannten Tomatenfeldern, erblickt sie überall. Zehntausende, wenn nicht Hunderttausende solcher Arbeiter muss es geben. Eigentlich leben sie im Verborgenen. Dabei sind sie unübersehbar.

Entstanden ist eine Unterschicht unterhalb aller Unterschichten

Seit einigen Wochen sucht Italien zu verhindern, dass noch mehr Flüchtlinge aus Nordafrika auf die Halbinsel übersetzen, mit Erfolg. Nach außen agiert das Land dabei als souveräner Nationalstaat. Er will selbst darüber entscheiden, wer die Grenzen überschreiten darf und wer nicht. Innerhalb Italiens ist die Lage komplizierter: Denn zwischen den Menschen, die es als Bürger fremder Staaten respektiert, und den Flüchtlingen, die es nunmehr rigoros abweist und also ihrem Schicksal überlässt, wie grausam das auch immer ausfallen mag, ist eine dritte Gruppe von Migranten entstanden: Die "irregolari" ("Irregulären"). Sie leben in Italien, und das oft schon seit vielen Jahren. Fast alle arbeiten. Aber sie sind Gesetzlose, nicht im Sinn des amerikanischen "Outlaws" - denn ein solcher hat die Gesetzlosigkeit selbst gewählt -, sondern in einer negativen Bedeutung, insofern sie nämlich zu einem Leben außerhalb der staatlichen Ordnung gezwungen sind. Der elementare Schutz von Person und Eigentum, den ein moderner Staat seinen Bürgern gewährt, bleibt ihnen vorenthalten. Die Nachteile, die in einem Dasein als Rechtssubjekt liegen, was etwa heißt, Gegenstand der Strafverfolgung werden zu können, dürfen sie hingegen in vollem Umfang genießen.

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Das wirtschaftliche System, in dem diese Migranten leben, trägt auf Italienisch den Namen "caporalato": Vermittlung von Schwarzarbeitern. Seine Agenten sind die "caporali" ("Korporale"), selbst oft ehemalige Flüchtlinge. In den frühen Morgenstunden fahren sie zu einem Ort, an dem sich die "irregolari" versammelt haben, laden so viele Arbeiter ein, wie in den Kleinbus hineinpassen, und bringen diese auf ein Feld, wie zuvor mit einem Arbeitgeber (oft Genossenschaften eher fiktiven Charakters, die nur lose an das Arbeitsrecht gebunden sind) vereinbart. Für diesen Dienst kassieren sie eine Vermittlungsgebühr sowie von jedem der Arbeiter eine Transportkostenpauschale. Ein Arbeitstag bringt zwanzig bis dreißig Euro (manchmal gibt es auch weniger) und dauert bis zu zwölf Stunden, was insgesamt auf weniger als die Hälfte der Summe hinauslaufen dürfte, die ein Landwirt einem legal eingestellten, ungelernten Arbeiter mindestens zu zahlen hätte (874,60 Euro pro Monat).

Die Gewerkschaft kann sich nicht um sie kümmern, weil sie keine bürgerliche Existenz besitzen

So entsteht eine Unterschicht unterhalb aller Unterschichten. Darin leben Menschen, die in die Wirtschaft integriert sind, ansonsten aber, jeder für sich, in einem existenziellen Ausnahmezustand leben. Das Proletariat der frühen Industrialisierung scheint in ihnen zurückzukehren, lauter Menschen ohne "Vaterland" (Karl Marx), die buchstäblich nicht mehr verdienen, als sie zur Reproduktion ihres leiblichen Daseins benötigen. Schlimmer noch: Wie sollte unter ihnen auch nur ein Bewusstsein gemeinsamer Not entstehen?

Das System des "caporalato" gibt es schon lange, seit der Industrialisierung der Landwirtschaft im italienischen Süden im 19. Jahrhundert, und es war immer schon ein System der Macht und keines der Rechtmäßigkeit gewesen. Aber es änderte zuletzt seine Gestalt mit den Migrantengruppen, die jeweils durch das Land zogen, und es wurde dabei zunehmend kriminell. Den Afrikanern vorausgegangen sind vor allem Arbeiter aus Osteuropa, aus Bulgarien und Rumänien - manche von ihnen wurden vertrieben, weil die Afrikaner billiger sind, und tauchten dann als Bettler in den großen Städten des europäischen Nordens auf; manche verdienen jetzt an der Infrastruktur des "caporalato", was man unter anderem an den Nummernschildern der Fahrzeuge erkennt.

Tomaten werden in "cassini" gesammelt und transportiert, in großen Kästen, die jeweils etwa 375 Kilogramm fassen: Es kostet den Landwirt drei bis vier Euro, einen davon gefüllt zu bekommen. In diesem Gewerbe, haben italienische Ökonomen ausgerechnet, werden pro Jahr etwa fünf Milliarden Euro umgesetzt, wobei dem Staat etwa 1,8 Milliarden Euro an Steuern verloren gehen. Trotzdem gibt es wenig Interesse des Staates an einer Verrechtlichung dieser Arbeitsverhältnisse. Denn so unerwünscht die "irregolari" der Politik, zumal der gegenwärtigen Regierung, sein mögen: Die Landwirtschaft und mit ihr die italienische Lebensmittelindustrie ziehen ihren Vorteil daraus. Nun beschwerte sich Matteo Salvini zwar bei seinem Besuch in Foggia, die Sklavenwirtschaft auf den apulischen Feldern sei Folge einer europäischen Landwirtschaftspolitik, die den Import von Tomaten aus Tunesien begünstige. Dass die apulische Landwirtschaft sich freiwillig dafür entscheiden würde, nicht mit den billigsten Kräften zu arbeiten, glaubt er indessen vermutlich selber nicht.

Die Menschenrechte gelten als unantastbar. Sie sind es aber nicht. Ihre Geschichte ist zugleich die Geschichte ihres permanenten Entzugs, der Entrechtung, der Verfolgung. Dafür gibt es einen Grund: Menschenrechte setzen Menschen voraus, die, wie es bei Hegel heißt, ein "Dasein als Person" haben, also Rechtssubjekte sind. Solche werden sie aber erst, wenn ein Staat sie, kraft ihrer familiären Abstammung oder weil sie auf seinem Territorium geboren sind, als seine Bürger betrachtet. Solches tut aber weder der Staat, aus dem die "irregolari" geflohen sind, noch Italien, das Land, das sie, wie widerwillig auch immer, bis auf Weiteres aufgenommen hat. Wären die Arbeiter, die in den Kleinbussen bei Foggia ums Leben kamen, legal eingestellt gewesen, würde ihr Tod als Arbeitsunfall gelten. Da sie aber nicht als Rechtssubjekte gelten, sind sie nicht als Personen, sondern nur als Menschen gestorben, getrennt von den Angehörigen, ohne Ansprüche und Rechtsfolgen, eine Angelegenheit allenfalls für das Sozialamt von Foggia, das vermutlich nun für ihre Beerdigung sorgen muss. Tatsächlich kann sich nicht einmal die Gewerkschaft der Landarbeiter angemessen um diese Menschen kümmern, weil auch sie voraussetzt, dass die von ihr vertretenen Menschen eine bürgerliche Existenz besitzen.

Trotzdem werden die "irregolari" in Italien bleiben und vor allem in den Branchen arbeiten, in denen ungelernte Kräfte bestehen können und Kontrollen nur unter Schwierigkeiten zu realisieren sind, in der Landwirtschaft und im Bauwesen, um vom Drogenhandel nicht anzufangen.

Die Polizei kontrolliert die Transporter, während die darin Transportierten längst arbeiten

"Ghetti" nennt man in Italien die Behausungen, in denen sie leben, oft zu Hunderten, in leer stehenden Fabriken oder aufgegebenen Wohnblocks. Berühmt sind der verlassene Militärflughafen bei Borgo Mezzanone in Apulien, wo eine ganze Barackenstadt entstanden ist, oder das "Hotel House" in Porto Recanati in den Marken, ein allein stehendes, riesiges Appartement-Gebäude, das, weil in den vergangenen Jahren darin eine veritable Parallelgesellschaft entstand, mittlerweile sogar Gegenstand soziologischer Untersuchungen ist. Manchmal stößt man auf dem offenen Land auf Gruppen aus improvisierten Hütten, in denen augenscheinlich "irregolari" wohnen. Ermuntert offenbar durch die militante Rhetorik Matteo Salvinis, machen Italiener nun häufiger Jagd auf die Illegalen. Auch Tote hat es schon gegeben.

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Würden die "irregolari" dorthin gelangen, wohin zumindest die meisten eigentlich strebten, nach Deutschland oder nach Schweden, würden sie in einen Zwischenzustand geraten, der womöglich über Jahre andauerte.

Reiche Staaten behandeln die Illegalen, wenn diese nicht direkt zurückgewiesen werden, als Wartende. Am besten wäre es zwar, wenn sie nicht gekommen wären. Aber man will von rechtsstaatlichen Prinzipien nicht abweichen. So entstehen Warteperioden ohne Arbeit und voller Konflikte, deren Ende eine unsichere Angelegenheit ist. In Italien ist das anders, was nicht nur daran liegt, dass solche Verfahren teuer sind, vor allem für den aufnehmenden Staat, sondern auch daran, dass Italien das Land ist, in dem die Flüchtlinge den Boden der Europäischen Union betraten. Auch Italien schickt die Illegalen in einen Limbus, aber in diesem Zwischenzustand herrschen nur selten Gesetze. Zwar wird nach den Unfällen vom vergangenen Wochenende heftig nach Strafverfolgung und Kontrolle gerufen, von Politikern wie von der Presse. Die zugrunde liegenden Strukturen, vor allem die Systeme des "caporalato" und der mehr oder minder fiktiven Genossenschaften, werden kaum angetastet werden.

Die Gesetze zum Umgang mit den "irregolari" waren im Jahr 2016 verschärft worden, vor allem im Hinblick auf Vermittler und Arbeitgeber. Bislang zeitigen die Verschärfungen wenig Wirkung, auch wenn es vielleicht mehr Kontrollen auf den Feldern und Straßen gibt. Die Polizei von Foggia ließ sich dabei, wie die Tageszeitung Il Sole 24 Ore meldet, etwas Besonderes einfallen: Kleinbusse sollten danach zwischen sieben Uhr morgens und ein Uhr mittags kontrolliert werden, just zu der Zeit also, während der die darin transportierten Arbeiter mit Sicherheit nicht unterwegs sind, sondern Tomaten ernten.

© SZ vom 09.08.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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