Vieles ist geschrieben worden in den mehr als 30 Jahren seit der deutschen Wiedervereinigung, wie alles kam, was alles versäumt wurde, was Ost- und Westdeutsche seither bewegt - und doch gibt es weiterhin diskursive Leerstellen. Diese zu füllen, ist bekanntlich nötiger denn je. Was dabei hilft, ist die Lektüre eines kleinen Essaybands, der schon in seiner Zusammenstellung recht originell ist. Der Schriftsteller Ingo Schulze und der Historiker Kiran Klaus Patel haben sich hier Gedanken gemacht. Und es geht dabei um mehr als nur den "Beitritt der DDR zur BRD und zur Europäischen Gemeinschaft", wie der Titel verheißt.
"Im Gewand westdeutscher Normen"
Patel, ein exzellenter Kenner der europäischen Vereinigung, weist in seinem Beitrag darauf hin, dass die Ex-DDR ja am 3. Oktober 1990 nicht zur BRD, sondern auch der damaligen Europäischen Gemeinschaft (EG) beitrat. Dieser Brüsseler "Beifang" trug letztlich entscheidend dazu bei, dass den Ostdeutschen die Lust auf Europa recht schnell wieder verging - und auf die Vereinigung, denn das EG-Recht kam "im Gewand westdeutscher Normen" daher. Und es kam sofort, ohne Übergangsfristen.

Und so ist auch bei Ingo Schulze viel von enttäuschten Hoffnungen und vom utopischen Potenzial des Umbruchs zu lesen. Es geht um "Möglichkeitsräume" und "Möglichkeitssinn", um Verflechtung und Verdichtung und die Macht der D-Mark. Die Lektüre jedenfalls weitet den Blick - bis nach Brüssel.