Nachruf auf die Regisseurin Helga Reidemeister:Destillat der Wirklichkeit

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Helga Reidemeister (1940 - 2021). (Foto: N/A)

Zum Tod der Dokumentarfilmerin Helga Reidemeister, die mit Filmen wie "Von wegen Schicksal" dem Politischem im Privaten auf der Spur war.

Von Martina Knoben

Sie sitzen im Wohnzimmer oder am Küchentisch und streiten erbittert: Irene Rakowitz - geschieden, arbeitslos und Sozialhilfeempfängerin - und ihre vier Kinder. Die beiden jüngsten leben noch bei ihr, in ihrer Wohnung in einem Hochhaus im Märkischen Viertel. Alle sind unglücklich, verbittert, voller Zorn, ja Hass. Die Mutter hat sich vom Vater getrennt, der sie geschlagen hatte, die Kinder nehmen es ihr übel. Das Geld fehlt, Liebe auch.

Helga Reidemeister hat die Familie porträtiert, ihr Film "Von wegen Schicksal" (1979) war seinerzeit umstritten. Man dürfe, so der Einwand, nicht einfach das Innerste eines Lebens nach außen kehren, vor allem nicht, wenn Kinder beteiligt sind, die sich nicht gut wehren können. Tatsächlich lehnt Rakowitz' achtjähriger Sohn es eigentlich ab, bei so privaten Auseinandersetzungen gefilmt zu werden. Reidemeister lässt die Mutter das Filmmaterial mit seiner Aussage am Schneidetisch ansehen und filmt ihre Reaktion.

Irene Rakowitz zieht an der Zigarette, guckt in die Kamera mit starrem, strengen Blick. Und erklärt dann sehr ruhig, luzide, dass es bei solchen Bildern und Szenen eben nicht nur um eine - ihre - Familie gehe, sondern viele Familien ähnliche Konflikte haben. "Von wegen Schicksal" rückt eine Frau in den Mittelpunkt, die heute vielleicht einen unglücklichen Auftritt in einer Armutsporno-Fernsehsendung hätte - und nimmt sie vollkommen ernst. Der Kinozuschauer wird Zeuge einer in jeder Hinsicht schwierigen, brutalen Emanzipation.

"Gewaltverhältnisse in der Familie als Ausdruck von existentiellem Druck, verhinderter Liebesfähigkeit, wo eine Mutter nur Hausfrauenpflichten zu erfüllen hat, wo andere Bedürfnisse untern Tisch fallen, wo sie entsprechend heiß laufen muss — der Mut, sich selbst damit zu konfrontieren und der Versuch, aus dieser Alltagsnot herauszufinden", so hat Helga Reidemeister das Thema ihres Films kommentiert. Er war ihre Abschlussarbeit an der Berliner Filmhochschule, 1979 wurde sie dafür mit einem Deutschen Filmpreis für die beste Nachwuchsregie ausgezeichnet.

Frauen, gefangen in überkommenen Rollenmodellen, das war ihr Thema

Das Private öffentlich machen, weil es politisch ist, war Teil des - eben auch filmischen - Aufbruchs in den Siebzigerjahren, an dem Helga Reidemeister beteiligt war. 1940 in Halle an der Saale geboren, kam sie über die Sozialarbeit im Märkischen Viertel zum Film, lernte darüber auch Irene Rakowitz und ihre Familie kennen. Auch die Filme, die sie später drehte, waren oft Porträts, häufig von Frauen.

Und immer erschienen die Einzelschicksale als Destillate einer Wirklichkeit, die gerade im familiären, im häuslichen Bereich noch Strukturen wie aus den Vierziger- und Fünfzigerjahren aufwies - Strukturen, die vielen Frauen nur wenige Chancen ließen. In "Mit starrem Blick aufs Geld" (1982) porträtiert Reidemeister ein Fotomodell. "Gotteszell - Ein Frauengefängnis" (2000) zeigt den Alltag in der Strafanstalt Gotteszell in Baden-Württemberg. Und immer waren ihre Filme ein Dialog, von Empathie getragen. Die scheinbar unbeteiligte Haltung des Direct Cinema, die der Goldstandard war, als sie zu filmen anfing, war nie ihr Ding.

Ein weiteres Thema ihrer Filme war die Stadt Berlin, ihre Wahlheimat, während und nach der Teilung in West- und Ostberlin und dann wieder nach dem Mauerfall. Hier lebte sie eine Zeitlang in einer Wohngemeinschaft mit dem Studentenführer Rudi Dutschke, über den sie einen ihrer Filme drehte. Der Abzug der Sowjetarmee, zwei Jahre nach der Wiedervereinigung, ist Thema von "Rodina heißt Heimat" (1992), beispielhaft für den Umbruch war die thüringische Garnisonsstadt Meiningen und das umliegende Grenzgebiet der DDR. "Lichter aus dem Hintergrund" (1998) ist ein Porträt des Ostberliner Architekturfotografen Robert Paris, der sich im wiedervereinigten Berlin neu finden muss. Ihre letzten Filme drehte Reidemeister während des Krieges in Afghanistan - so weit führte sie ihre Empathie. Am Montag ist Helga Reidemeister nach langer Krankheit in Berlin gestorben. Sie wurde 81 Jahre alt.

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