George Orwells "Reise durch Ruinen":Rache ist eine Fantasie der Machtlosen

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Menschen zwischen Trümmerbergen und Ruinen 1945 in der Münchner Schellingstraße. (Foto: SZ Photo)

George Orwell reiste als Kriegsreporter 1945 durch das besiegte Deutschland. Seine Beobachtungen sind erstaunlich weitsichtig.

Von Juliane Liebert

Der Band "Reisen durch Ruinen" sammelt Orwells Reportagen von März bis November 1945. Er war als Kriegsberichterstatter der Alliierten in Deutschland und dokumentierte die Niederlage der Nationalsozialisten aus größter Nähe. Zudem finden sich in dem bei Beck erschienenen Band drei seiner Artikel zu Deutschland von 1940, 1943 und 1945. Diese Texte sind auch heute noch hochspannend, beschreiben sie doch vorurteilslos und hellsichtlich die Lage am Ende des Zweiten Weltkriegs.

Viele von Orwells Prognosen haben sich als zutreffend erwiesen — etwa, dass Sowjetunion und USA die Weltpolitik als Großmächte dominieren werden. Schon 1940 erkennt er in seiner Rezension von "Mein Kampf", dass man Hitler beim Wort nehmen muss und er Krieg gegen Russland führen wird. Außerdem arbeitet er, Thomas Mann rezipierend, eindrücklich heraus, was die Nazis so anziehend machte: Das totale Commitment, der ewige Urlaub vom Ich, für den man auch zur Selbstzerstörung bereit ist.

Heute übt der Islamismus auf manche junge Leute eine ähnliche Faszination aus. Eine weitere sehr treffende Bemerkung macht Orwell, die man auch heute manchen Progressiven ins Stammbuch schreiben möchte: "Ein Sozialist, der seine Kinder mit Zinnsoldaten erwischt, ist meistens empört, aber er ist auch unfähig, sich einen Ersatz für das Spielzeug auszudenken: Zinnpazifisten funktionieren irgendwie nicht."

In "Rache ist sauer" beschreibt er eine Begegnung mit einem jungen jüdischen Offizier. Der "junge Jude" führte Orwell Anfang 1945 durch einen Hangar voller inhaftierter SS-Offiziere. Einen der Gefangenen tritt er gegen den bereits "deformierten", "scheußlich geschwollenen" Knöchel. Beschimpft ihn als Schwein: "Ich fragte mich, ob der junge Jude eigentlich wirkliche Befriedigung aus der Tatsache zog, dass er hier Macht genoss", schreibt Orwell. "Ich kam zu dem Ergebnis, dass er sie nicht wirklich genoss, sondern sich nur - wie ein Freier in einem Bordell, ein Junge mit seiner ersten Zigarre oder ein Tourist in einer Gemäldegalerie - einzureden versuchte, dass er die Situation genoss, und sich so benahm, wie er sich das vorgenommen hatte, als er noch hilflos war."

Er fährt fort: "Es ist absurd, einem deutschen oder österreichischen Juden Vorwürfe zu machen, wenn er es den Nazis heimzahlen will. Nur der Himmel weiß, was der junge Mann für Rechnungen zu begleichen hatte. Wahrscheinlich war seine ganze Familie ausgelöscht worden. Und selbst wenn sein Fußtritt bloße Willkür war, blieb er gemessen an den Verbrechen des Hitler-Regimes eine Kleinigkeit. Aber was diese Szene und manches andere, was ich in Deutschland gesehen habe, mir klarmachte, war die Tatsache, dass die ganze Vorstellung von Rache und Bestrafung nur ein kindischer Tagtraum ist. Genau genommen gibt es gar keine Rache. Rache ist etwas, das man sich vorstellt, solange man ohnmächtig ist und weil man ohnmächtig ist. Sobald das Gefühl der Ohnmacht vorbei ist, verschwindet auch dieser Wunsch."

George Orwell: Reise durch Ruinen. Reportagen durch Deutschland und Österreich 1945. Mit einem Nachwort von Volker Ullrich. Aus dem Englischen übersetzt von Lutz-W. Wolff. C. H. Beck Verlag, München 2021. 111 Seiten, 16 Euro. (Foto: N/A)

Es ist eine der interessantesten Beobachtungen des Bandes - ob seine Schlüsse stimmen, hängt wohl stark von der Disposition des Opfers ab. Wer im Grunde ein friedliebender Mensch ist, wird in dem Moment, in dem er über die totale Macht zur Rache verfügt, keine Befriedigung mehr daraus ziehen können. Wer seinerseits ein kriegerisches Weltverständnis hat, möglicherweise schon.

Richtig lag Orwell indes mit seiner Einschätzung, dass der Rachegedanke auch auf nationaler Ebene nicht funktioniert. Ein deindustrialisiertes, maximal geschwächtes Deutschland, wie es teilweise aus den Reihen der Alliierten - vor allem in Frankreich - gefordert wurde, wäre kein zukunftsfähiges Modell für Europa gewesen.

Weil er in der Serie von Artikeln für den Observer die letzten Kriegstage begleitet, kommt es zu Redundanzen, die manchmal etwas ermüden, wenn man die Texte in Buchform am Stück liest — wofür sie ja ursprünglich nicht gedacht waren. Etwa seine Ausführungen zu den sogenannten "displaced persons", also den Millionen ehemaligen Zwangsarbeitern, die zu der Zeit durch Europa irrten.

Er erwähnt übrigens in diesem Zusammenhang nie die KZ-Häftlinge. Wie überhaupt die Vernichtung der europäischen Juden, abgesehen von der Rache-Passage, ausgespart bleibt. Das Nachwort erzählt ein bisschen zu viel nach, was vorher schon in den Artikeln stand. Da hätte man sich mehr Verdichtung, Hintergrundinformation und Reflexion gewünscht. Aber eine lohnende Lektüre sind Orwells Berichte vom Kriegsende vor allem deshalb, weil aus ihnen unverkennbar ein Ideologieskeptiker spricht.

Aus dem Autor spricht ganz unverkennbar ein Ideologieskeptiker

Orwell hatte sich nach seinen Erfahrungen im spanischen Bürgerkrieg von der kommunistischen Orthodoxie losgesagt, in der Endphase des Zweiten Weltkriegs erlebte er nun die Verheerungen des faschistischen Totalitarismus. Hier schreibt jemand, der unverkennbar noch mit bestimmten sozialistischen Ideen sympathisiert und an den Wert des individuellen Lebens glaubt, aber Erstere missbraucht und Letzteres millionenfach verachtet gefunden hat.

"Animal Farm", damals schon fertiggestellt, aber noch unpubliziert, hat ihm ja gelegentlich den Ruf des Kommunistenhassers eingetragen. Aber wenn man seine Artikel für den Observer liest, hat man nicht den Eindruck, einem Renegaten zu begegnen, der auf dem rechten Auge blind ist. Sein Tonfall ist viel mehr illusionslos, ohne Hass, aber nicht ohne Mitgefühl. Erst aus dieser Perspektive konnte ein Roman wie "1984" entstehen.

Hörspiel "1984"
:Likes für den Großen Bruder

Klaus Buhlert hat George Orwells Roman "1984" für den BR als Hörspiel in vier Teilen inszeniert - und denkt die Geschichte über ein totalitäres System in unsere Gegenwart weiter.

Von Stefan Fischer

Die im vorliegenden Band versammelten Reportagen und Essays legen nahe, dass die Erfahrungen als Kriegskorrespondent prägend dafür waren. Heute, umgeben von den ideologischen Schlachten des einundzwanzigsten Jahrhunderts, wünscht man sich manchmal mehr teilnehmende Beobachter wie Orwell.

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