Hörspiel "1984":Likes für den Großen Bruder

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(Foto: Illustration: Stefan Dimitrov)

Klaus Buhlert hat George Orwells Roman "1984" für den BR als Hörspiel in vier Teilen inszeniert - und denkt die Geschichte über ein totalitäres System in unsere Gegenwart weiter.

Von Stefan Fischer

Es braucht nicht viel, um diese Geschichte in einen neuen Kontext zu stellen. Gleich zu Beginn der vierteiligen Hörspieladaption von George Orwells dystopischem Klassiker 1984 richtet Julia Gordon eine Sprachnachricht an eine Gruppe Follower. Gordon ist eine der zentralen Figuren in dieser Geschichte um vollkommene gesellschaftliche Kontrolle, und sie ist diejenige, die sich am auffälligsten in den Vordergrund spielt und dabei um Aufmerksamkeit buhlt.

Regisseur Klaus Buhlert macht Julia Gordon, gespielt von Elisa Plüss, in diesem Intro also zur Influencerin, die für den Großen Bruder schwärmt. George Orwell hat in seinem 1948 abgeschlossenen Roman die monströsen totalitären Systeme seiner Epoche - den Nationalsozialismus und den Stalinismus - radikal zugespitzt und damit in gewisser Weise zu Ende gedacht. Er ist noch ausgegangen von politischen Ideologien, besaß jedoch genügend Fantasie zu erkennen, dass Totalitarismus sich erst dann vollkommen entfaltet, wenn es kein politisches Ziel mehr gibt, sondern die Macht zum reinen Selbstzweck wird. Und wenn es keine Individuen und keine greifbaren Institutionen mehr braucht, die dieses System steuern. Sondern, wenn das System sich selbst trägt.

Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft: Alles wird in den Ministerien bestimmt

Der Große Bruder, der alles sieht und hört, die Ministerien für Wahrheit, Liebe, Frieden und Überfluss, in denen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sämtlicher Menschen bestimmt werden - das ist in den herkömmlichen Kategorien von politischer Elite und bürokratischem Apparat nicht fassbar, auch nicht im Kontext faschistischer Strukturen. Es braucht das freiwillige Mitwirken nahezu der kompletten Gesellschaft.

Ohne den Stoff tatsächlich auf Gegenwart zu trimmen - dem Regisseur Buhlert genügen ein paar dezente, aber entscheidende Handgriffe -, stößt das Hörspiel eine Tür auf, von deren konkreter Existenz George Orwell noch nichts wissen konnte. Und man blickt mit dieser Radioadaption von 1984, der Beschreibung einer absoluten Kastration von Gedankenfreiheit und Wahrhaftigkeit, auf die Filterblasen unser Gegenwart, auf Fake News, Cancel Culture, Shitstorms und Dauerwerbebotschaften. Sowie auf die vielfache freiwillige Ergebenheit, mit der die Nutzer sozialer Netzwerke sich ihrer bedienen.

Dahinter verbirgt sich keine wohlfeile Social-Media-Schelte und erst recht keine Gleichsetzung von Twitter-Trumpistan mit dem NS-Regime oder dem Stalinterror. Jedoch das Unbehagen über Digitalkonzerne, denen die Kontrolle über ihre Kommunikationsplattformen bereits entglitten zu sein scheint, und über eine Nutzerschaft, die entweder nicht ausreichend mündig wirkt, um selbst die offensichtlichsten Risiken zu erkennen - oder sie für ein paar Bequemlichkeiten bewusst ignoriert. Das Hörspiel zeigt nicht, wo wir heute stehen, sondern wohin wir womöglich einmal gelangen können, wenn wir uns als Gesellschaft nur einig genug sind.

1984, Bayern 2, 4 Teile, 29. Oktober sowie 5., 12. und 19. November, jeweils 21.05 Uhr.

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