Gedenkstätten - Lohheide:Gedenkstättenleiterin: "Hemmschwelle weit heruntergegangen"

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Hannover (dpa/lni) - Die Corona-Pandemie stellt auch die Bildungsarbeit zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus vor Herausforderungen. Die Leiterin der Gedenkstätte Bergen-Belsen, Elke Gryglewski, fordert ein klares Eintreten gegen Antisemitismus und Rechtsextremismus heute. Auch die Politik müsse deutlicher Stellung gegen demokratiefeindliche Tendenzen beziehen. Die 55-Jährige kritisiert Corona-Demonstrationen, bei denen Parallelen zwischen der Bundesregierung und Nazi-Diktatur gezogen werden. Die Gedenkstätte Bergen-Belsen, die Bildungsarbeit für Toleranz und Menschlichkeit leistet, ist schon seit November für Besucher geschlossen. Zum 76. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers an diesem Donnerstag (15. April) können wie schon 2020 keine Überlebenden anreisen.

Frage: Der niedersächsische Antisemitismusbeauftragte Franz-Rainer Enste berichtete vor kurzem, dass jüdische Menschen im Land zunehmend online verbalen Angriffen ausgeliefert seien. Wie beurteilen Sie das Klima derzeit?

Antwort: Dieses Gedankengut hat schon immer existiert. Aber es wird inzwischen mit einer Massivität geäußert - und das von Menschen, die für sich beanspruchen, die Mitte der Gesellschaft zu sein. Das finde ich sehr besorgniserregend und da muss man sehr genau hinschauen, wie sich das weiter entwickelt. Teilnehmern von Protesten gegen staatliche Corona-Maßnahmen macht es offenbar nichts aus, dass auch rechtsextreme Gruppen diese Demonstrationen begleiten. Dieses Klima ist nicht erst durch Corona entstanden, sondern seitdem die AfD im Bundestag ist.

Was erwarten Sie von der Politik?

Politiker betonen immer, dass man die Ängste der Menschen ernst nehmen muss. Das gilt für alle Menschen, nicht nur für Kritiker der staatlichen Maßnahmen. Man sollte jetzt mit der jüdischen Community in Verbindung treten, was es für sie bedeutet, dass bei den Demonstrationen Davidsterne angeheftet werden. Und was das für die Holocaust-Überlebenden bedeutet. Erst vor ein paar Tagen wurde bei einer Demonstration in Dachau ein Plakat mit einem Sophie-Scholl-Zitat getragen. Da sprechen wir von einem Ort mit einer KZ-Gedenkstätte, der sich permanent mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzt. Dies zeigt, dass die Hemmschwelle sehr weit heruntergegangen ist.

Bei den Corona-Demos werden bewusst Tabus gebrochen und damit der Holocaust verharmlost. Kann die Bildungsarbeit in den Gedenkstätten dazu ein Gegengewicht bilden?

Gedenkstättenarbeit ist sehr wichtig. 2019 besuchten etwa 240 000 Menschen Bergen-Belsen, von den 1060 Gruppen waren rund 870 Schülergruppen. Seit dem Frühjahr 2020 hatten wir wegen der Pandemie nur im Sommer kurzzeitig auf, aber die Kolleginnen und Kollegen haben vielfältige digitale Angebote gemacht: Instagram-Führungen, Vorträge, Seminare. Das wird so gut genutzt, dass es auch nicht wegfallen wird, wenn die regulären Öffnungszeiten wieder möglich sein werden.

Zum 75. Jahrestag der Befreiung von Bergen-Belsen wollten 2020 eigentlich rund 100 Überlebende anreisen. Jetzt muss die Gedenkveranstaltung mit Gästen aus aller Welt wieder abgesagt werden. Was waren die Reaktionen?

Alle Beteiligten bedauern die Situation sehr. Viele Überlebende haben lange Zeit in ihrem Leben nicht über Bergen-Belsen gesprochen, umso wichtiger ist es für sie, davon im späten Alter zu erzählen und den Ort mit ihren Angehörigen zu besuchen. Aus Israel erreichte mich jetzt eine Aussage, dass es darum gehe, dass sich der Kreis schließt. Es gibt von Bergen-Belsen noch vergleichsweise viele Überlebende, weil dort auch Kinder in großer Zahl inhaftiert waren.

Was ist für den 76. Jahrestag der Befreiung an diesem Donnerstag geplant?

Wir machen eine kleine Gedenkfeier, die zeitversetzt im Internet zu sehen sein wird. Der Vorsitzende des Landesverbands der jüdischen Gemeinde Niedersachsen, Michael Fürst, und Kultusminister Grant Hendrik Tonne werden sprechen. Jugendliche hatten die Gelegenheit, mit Zeitzeugen Gespräche zu führen und werden davon erzählen. Den ganzen Tag wird es darüber hinaus auf der Internetseite www.befreiung1945.de Gedenkmomente und Grußworte geben.

Zur Person: Elke Gryglewski (55) ist seit Januar Geschäftsführerin der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten und Leiterin der Gedenkstätte Bergen-Belsen. Die Politologin war zuvor stellvertretende Leiterin der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz in Berlin.

© dpa-infocom, dpa:210414-99-195243/3

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