Virtual-Reality-Theater:Überleben in 360 Grad

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Plötzlich der letzte Mensch auf Erden: Die Frau (Floriane Kleinpaß) fügt sich in ihr neues Leben. (Foto: collective archives)

Das Schauspiel Essen zeigt Marlen Haushofers "Die Wand" als Virtual-Reality-Format - das ist große Theaterkunst.

Von Christiane Lutz

Marlen Haushofers "Die Wand" von 1963 ist ein großartiges Buch. Dystopisch, sehr verstörend, und trotzdem voller liebevoller Betrachtungen des Lebens, der Natur. Das muss zuerst betont sein, weil der Roman in der unglücklichen Kategorie "Gehört eigentlich in den Kanon deutschsprachiger Literatur, kennen aber viel zu wenig Menschen" feststeckt. Somit erst mal ein Dank an das Schauspiel Essen, das eine Virtual-Reality-Inszenierung daraus gemacht hat.

"Die Wand" eignet sich bestens für die Solo-Erfahrung des VR-Theaters, denn mit VR-Brille zu Hause ist man genauso isoliert von der Welt wie die Frau in der Geschichte. Sie fährt mit Freunden in ein Ferienhaus im Wald, die gehen am Abend ins Dorf und kehren nicht zurück. Als sich die Frau auf die Suche macht, stößt sie plötzlich an einen "glatten, kühlen Widerstand an einer Stelle, an der doch gar nichts sein konnte als Luft". Fortan ist sie da, die Wand. Was mit dem Rest der Menschheit passiert ist, erfährt die Frau nie. Ob sie Auserwählte ist, weil sie noch lebt, oder Verdammte, weil sie noch lebt, ist Ansichtssache.

Ist das eine Dystopie, der letzte Mensch zu sein? Oder doch eine Utopie?

Haushofer spielt mit der Idee, ähnlich wie Guido Morselli in seinem ebenfalls lesenswerten Roman "Dissipatio humani generis". Darin verschwindet über Nacht die Menschheit bis auf einen Übriggebliebenen. Während Morsellis Mann in philosophische Erklärkonstrukte flieht, rettet sich Haushofers Frau in Pragmatismus. Ihre Angst, wahnsinnig zu werden, weicht dem Überlebenstrieb: Sie baut Kartoffeln an, schießt Rehe, zieht sich einen kranken Zahn. Nur ein Hund und eine Kuh sind bei ihr. Ihrem früheren Leben trauert sie kaum nach, sondern ergibt sich mehr und mehr der Natur, die unbeirrt weiterwuchert. Romantisierendes Nature Writing ist das nicht, auch kein Eskapismus, zu bedrohlich das Szenario, zu real der Überlebenskampf.

Man kann die Frage stellen, ob es sich bei Haushofer um eine Dystopie handelt, die vom Ende der Menschheit nach einer möglicherweise menschengemachten Katastrophe erzählt, oder doch um eine selbstgewählte Isolation, den gescheiterten Versuch, mit anderen in Verbindung zu treten. Vielleicht ist es auch eine Utopie, in der die Natur die Kontrolle über die Erde zurückgewinnt? Haushofer beantwortet das nicht, denkt aber über soziale Konstrukte wie das Weihnachtsfest nach, das unweigerlich mit schneebedeckten Tannen assoziiert wird, und darüber, was mit menschengemachten Kategorien wie der Zeit geschieht: "Wenn die Zeit aber nur in meinem Kopf existiert und ich der letzte Mensch bin, wird sie mit meinem Tod enden", sagt die Frau, "der Gedanke stimmt mich heiter."

Immer mehr werden Frau und Haus von der Natur verschlungen

Der Regisseur Thomas Krupa hat mit dem VR-Artisten Tobias Bieseke nun ein wahres Virtual-Reality-Theater-Wunderwerk geschaffen und dafür eine beeindruckende Kulisse gebaut. Das Setting ist leicht angehipstert, die Frau lebt statt in einem düsteren Forsthäuschen in einem schicken Tiny House, ausgestattet mit allerlei Schnickschnack, Boulder-Wand, einer Smart-Home-Anlage, alles instagramtauglich. Eine riesige Glasfront gibt den Blick frei in den Wald, für eine Urlauberin ist diese Nähe zur Natur erfrischend, für die Überlebende ist eine Glasfront plötzlich unnütz, sogar bedrohlich.

Wenn auch deutlich sparsamer dosiert als im Roman, lässt diese Inszenierung immer wieder Momente des Innehaltens zu, das Staunen über die Natur, den unbedingten, fast rührenden Willen der Dinge zu leben. Immer mehr werden Frau und Haus in dieser Inszenierung verschlungen von der Natur, bis alle Grenzen verschwimmen. Im Buch hingegen bleibt die Frau bis zum Ende ein Mensch, der zwar über seine Rolle in der Natur reflektiert und nach ihren Regeln lebt, aber nicht in ihr verschwindet. Frieden mit ihrer Situation schließt sie auf die eine und die andere Weise.

Als Zuschauerin sitzt man also mittendrin, im oder vor dem Haus und kann der Geschichte in 360 Grad folgen. Die Stimme der Frau (Floriane Kleinpaß) klingt durchgehend beunruhigt, sie flüstert, fällt aber nie in Panik. Der Effekt ist beklemmend: Man fühlt sich mit eingesperrt in diesem Ort und in der Psyche der Frau, ist ihr fast unangenehm nahe. Man erlebt aber auch den Wechsel der Jahreszeiten mit, den Regen, den Schnee, und wenn man den Kopf hebt, sieht man den Sternenhimmel.

Sollte jetzt noch irgendjemand fragen, wofür man VR-Theater braucht: genau dafür.

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