"Sick!" von Earl Sweatshirt:Auf Halbmast

Lesezeit: 2 min

"Das Leben kann sich binnen eines Wimpernschlages verändern", rappt Earl Sweatshirt. Er muss es wissen - mit 16 verschwand er plötzlich und kam erst anderthalb Jahre später zurück. (Foto: Ryosuke Tanzawa)

Auf der Rap-Platte "Sick!" verhandelt Earl Sweatshirt die desolate Stimmung einer kaputten Jugend - mit und ohne Pandemie.

Von Lennart Brauwers

Ein Haufen eskapistischer Wohlfühl-Songs, die einen den Pandemie-Alltag vergessen lassen, wäre eigentlich auch mal wieder nett gewesen. Wird aber nix draus. Immerhin soll "Sick!" der klangliche Schnappschuss einer Zeit sein. Oder, wie der Rapper Earl Sweatshirt es in einem Statement zu seiner neuen Platte ausrückt: "Ein weiser Mann hat mal gesagt, dass Kunst das Leben widerspiegelt. Die Leute waren krank. Die Leute waren wütend, isoliert und ruhelos." Man fühlt sich also durchaus verstanden auf diesem Werk, noch mehr, wenn man jung ist, und Corona keine anstrengende Episode ist, sondern ein Lebensabschnitt, der mehr oder weniger vollständig vernichtet wurde.

Earl Sweatshirt weiß, wovon er da spricht - auch vor Covid konnten die Entwicklungsjahre ja schon gehörig falsch abbiegen. Kurzer Rückblick also: Als Sohn einer Uni-Professorin und eines südafrikanischen Poeten und Aktivisten veröffentlichte Thebe Neruda Kgositsile, so der Name, den die Eltern ihm gaben, im Alter von 16 Jahren sein vulgäres, pubertäres Mixtape "Earl". Sehr direktes Teil, das ihm schnell den Ruf als neues Rap-Wunderkind einbrachte. Damals war er Teil von Odd Future (voller Name: Odd Future Wolf Gang Kill Them All), dem provokanten, extrem agilen Hip-Hop-Kollektiv um Tyler, The Creator, das genau dann ein Underground-Hype wurde, als Earl Sweatshirt plötzlich verschwand.

Als er zurückkam, klang er wie jemand, der sich mit dem Untergang der Welt abfindet

Seine Mutter hatte ihn damals nach Samoa geschickt - auf eine Schule für gefährdete Jugendliche. "Life can change in the blink of an eye", heißt es im letzten Song des neuen Albums. "Came home in 2011", rappt er vorher im drückenden Highlight "Titanic", und kurz danach dann: "Ain't know where none of this shit was headed". Die desolate Stimmung einer kaputten Jugend funktioniert mit und ohne Pandemie.

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Mit einer deutlich tieferen Stimme und introvertierten Lyrics, die nun endgültig so wirkten, als seien sie den schattigsten Ecken seiner Psyche entsprungen, kam der Rapper damals als scheinbar gebrochener Künstler zurück. Seine immer schon unaufgeregte Vortragsweise war nun noch monotoner und gleichzeitig voller Leid - wie gesprochen von jemandem, der kurz davor steht, sich mit dem Untergang der Welt abzufinden. Während sein Kollege Tyler, The Creator von Album zu Album extravaganter wurde, entwickelte sich die Musik von Earl Sweatshirt eher gegenteilig: Jede Platte war noch kürzer und abstrakter als die davor.

Earl Sweatshirt: "Sick!" (Foto: Warner Music)

Und "Sick!" ist nun also der Sprung da heraus? Nicht ganz. Der 27-Jährige klingt immer noch so, als hätte er die Augen auf Halbmast gekifft - Joint im Mundwinkel, Hoodie tief ins Gesicht gezogen. Refrains hält er weiterhin für überbewertet und viel länger als seine vorangegangenen Werke ist das Album auch nicht (nur vier der zehn Songs überschreiten die Zwei-Minuten-Grenze). Aber: Man kann ihm immerhin wieder zuhören, ohne direkt in ein tiefes Loch voller düsterer Gedanken zu fallen. Die Beats sind robuster, drohen nicht mehr jeden Augenblick zu zerbrechen und auch seine Stimme ist klarer abgemischt - als hätte Earl Sweatshirt endlich selbst erkannt, was für ein begabter Rapper er ist.

Paradoxerweise trug schon sein Zweitwerk aus dem Jahr 2015 den (mindestens originellen) Namen "I Don't Like Shit, I Don't Go Outside". Im Titeltrack der neuen Platte rappt er heute: "Can't go outside no more, 'cause ni**as sick." Das kann eine Selbstdiagnose sein - oder das Psychogramm einer Jugend unter Corona. Der letzte Satz des Albums lautet: "I'm seeing no one I want." Am Ende klimpert ein trübseliges Piano. Es klingt wie eine tröstende Hand auf der Schulter. Hoffentlich.

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