"Sie haben ja keine Ahnung, wie wundervoll ein Orchester wie das London Symphony Orchestra in einem großartigen Konzertsaal klingen kann", sagte Sir Simon Rattle vergangene Woche in einem BBC-Gespräch.
Ein Satz mit beachtlicher Wirkung. Erstens kam er vom bedeutendsten lebenden britischen Dirigenten. Zweitens hofft man auf der Insel, dass Rattle nach dem Ablauf seiner Zeit bei den Berliner Philharmonikern 2018 Valery Gergiev als Chefdirigent des London Symphony Orchestra (LSO) ablöst. Drittens schwang in der Bemerkung unüberhörbar eine Mängeldiagnose mit: Die Londoner haben keine Ahnung, wie wundervoll das LSO klingen kann, weil es in London keinen richtig guten Konzertsaal gibt. Die Musikliebhaber hier verdienten einen Ort, an dem "ein Orchester erblühen" könne, so Rattle.
Bereits am Freitag verkündete Schatzkanzler George Osborne in einer Rede in der Tate Modern, er "unterstütze Pläne für einen neuen, bedeutenden Konzertsaal in London durch die Finanzierung einer Machbarkeitsstudie". Ziel sei der Bau einer "Konzerthalle von Weltformat, vergleichbar mit denen in anderen großen Städten weltweit".
Dem Evening Standard sagte Osborne, Gespräche mit Simon Rattle hätten ihn von den "Kultur-, Bildungs- und Wirtschaftsvorteilen eines modernen Konzertsaals" überzeugt. Auch Bürgermeister Boris Johnson hat der Machbarkeitsstudie zugestimmt.
Nun wird heftig über die zahlreichen Fragen gestritten, die diese Pläne aufwerfen: Braucht London tatsächlich noch einen großen Konzertsaal? Wo sollte er stehen? Wie soll er finanziert werden? Und welche Auswirkungen hätte ein solcher infrastruktureller Schritt auf das kulturpolitische Binnenklima in England?
Bestrebungen, Rattle nach England zurückzulocken
Sieht man von der viktorianischen Royal Albert Hall ab, hat London bereits zwei große, vergleichsweise moderne Konzertsäle: Das Barbican und die Royal Festival Hall. Die Akustik des Barbican, Londoner Hauptauftrittsort des LSO, ist umstritten; der Saal gilt als klanglich trocken.
Von der annähernd 3000 Zuschauer fassenden Royal Festival Hall sagte Simon Rattle sogar einmal, man verliere nach 30 Sekunden den Lebenswillen, wenn man auf den hinteren Plätzen einem Konzert zu lauschen versuche. Dabei hat sich der Klang dort seit einer Komplettrenovierung 2007 unbestreitbar dramatisch verbessert.
Sollte eine Entscheidung zugunsten eines Neubaus fallen - wohl nicht zuletzt, um Rattle nach England zurückzulocken -, würde dieser zweifellos Hunderte Millionen Pfund kosten. Osbornes und Johnsons Idealvorstellung wäre sicher ein überwiegend privat finanziertes Gebäude im Stadtzentrum. Wer für die laufenden Betriebskosten aufkommen würde, steht allerdings dahin.
Und dann ist da die kontroverse Frage der immer weiter klaffenden Lücke zwischen der kulturellen Versorgung der Hauptstadt und den englischen Regionen. Bei der letzten Erhebung vor zwei Jahren entfielen auf jeden Londoner 69 Pfund öffentlicher Kulturausgaben - im Rest des Landes waren es nicht einmal fünf Pfund pro Kopf. Und dass eine Regierung, die einerseits das Wahlversprechen ausgibt, staatliche Kultursubventionen in der nächsten Legislaturperiode weiter zurückzufahren, zugleich glamouröse Londoner Renommierprojekte bejubelt, lässt für das kulturelle Gleichgewicht in Großbritannien Übles erahnen.