Die Gründe für den Brexit:Die Bereitschaft "Ausländern" zu misstrauen

Lesezeit: 4 min

Der zweite Faktor ist die Bereitschaft gerade der englischen Bevölkerung "Ausländern" zu misstrauen, eine Bereitschaft, die sich leicht in handfeste Fremdenfeindlichkeit verwandeln kann. Und unter "Ausländern" sind nicht nur Araber, Libyer und Türken gemeint, sondern auch Franzosen, Deutsche, und Polen (nicht aber Australier, Amerikaner und Kanadier). Der eingefleischte Eigendünkel der relativ gutgestellten bürgerlichen Schichten spielt im Hintergrund, und oft nicht nur im Hintergrund eine wichtige Rolle. In den letzten Wochen hörte man immer wieder den stolzen Satz: "Wir waren nie Europäer, wir sind auch jetzt keine Europäer, und wir wollen niemals Europäer werden".

In diesen Milieus ist man es zwar gewohnt, sich vom großen Onkel, den USA, bevormunden zu lassen, und man konnte sich sogar dazu bereitfinden, vor den finanzstarken Chinesen und —wenn es sich wirklich nicht vermeiden ließ— vor den ölreichen Scheichs das Knie zu beugen, aber vor Europäern? Für sehr viele Angehörige der älteren Generation war es unerträglich, geradezu moralisch empörend, mit Kontinentaleuropäern gleichgestellt zu werden. Wer das schändliche Auftreten und Verhalten unserer Vertreter in den europäischen Institutionen gesehen hat, wird die uns eigenen moralisierenden Überlegenheitsgesten gut kennen.

Wir Briten haben durch unsere Kriegspolitik im Nahen Osten zur Flüchtlingskrise beigetragen

Solange die wirtschaftliche Konjunktur besonders günstig war, und alles in der EU mehr oder weniger nach unserem Willen ging, konnten diese Ressentiments in Grenzen gehalten werden, aber die kleinste Störung der gut geölten Maschinerie, wie zum Beispiel die Unfähigkeit der EU, eine Einigung über die Verteilung der Flüchtlinge aus dem Nahen Osten zu finden, die in der Tat ein Skandal, aber kein Scheidungsgrund war, lässt die euroskeptische Stimmung wieder hochflammen. Die unangenehme Wahrheit, die hierzulande keiner hören will, ist, dass wir, die Briten, nicht Angela Merkel, durch unsere jahrelange Kriegspolitik im Nahen Osten das Flüchtlingsproblem miterzeugt haben.

Es ist wahr, dass eine so leicht zerbrechliche Gemeinschaft keine Grundlage für ein fest gefügtes Gebäude abgeben kann, aber die große Hoffnung war, dass die jüngere Generation der Briten in eine volleuropäische Lebensform langsam hineinwachsen würde, und das Abstimmungsergebnis zeigt, dass diese Hoffnung nicht vollkommen grundlos war. Leider sah sich David Cameron bemüßigt, aus rein opportunistischen Gründen ein Referendum zu versprechen, um mit einer vorübergehenden ungünstigen innenpolitischen Konstellation fertig zu werden. Außer ein paar Fanatikern hat niemand dieses Referendum gewollt, aber die Eigendynamik des politischen Prozesses hat jetzt ein Ergebnis gezeitigt, das für uns in Großbritannien eine Katastrophe darstellt, die nicht wiedergutzumachen ist.

Raymond Geuss, geboren 1946 in Evansville (Indiana) in den USA, seit 2000 eingebürgerter Brite, ist emeritierter Professor der Philosophie an der Universität Cambridge.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema