Debatte über Beschneidungen:Triumph des Vulgärrationalismus

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Vor kurzem hat der Schriftsteller Martin Mosebach einen Beitrag über eine etwaige Strafbarkeit der Blasphemie publiziert. Dieser ist in der veröffentlichten Meinung auf vollständige Ablehnung gestoßen. Was die Empörung über Martin Mosebach mit dem Verbot der Beschneidung zu tun hat.

Navid Kermani

Mut ist in den öffentlichen Debatten zu einer Kategorie geworden, die das Gegenteil besagt. Wer die Ressentiments ausspricht, die ohnehin von den meisten gehegt werden, wer gegen Migranten, Hartz-IV-Empfänger, Flüchtlinge, Sinti und Roma, wahlweise den Islam oder den Staat Israel, vormals die Osteuropäer, neuerdings eher die Griechen, und seit jeher gegen das europäische Projekt polemisiert, wer Pauschalurteile scheinbar empirisch mit zurechtfrisierten Statistiken belegt, dem Nationalismus zuarbeitet und ganze Bevölkerungsgruppen zur Bedrohung erklärt, der hat nicht nur beste Aussichten, von den beiden größten Medienkonzernen des Landes vermarktet und, obschon mit zwangskritischem Einschlag, auch vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk prominent ins Bild gerückt zu werden - wer all dies tut, dem sind nicht nur hohe Auflagen, überfüllte Lesungen, sprudelnde Tantiemen und die vielen lobenden Zuschriften sicher, die beinah schon rituell den Nörglern entgegenhalten werden, die mit der jeweiligen Sache akademisch befasst sind.

Nein, wer als Sprachrohr der Mehrheit gegen diese oder jene Minderheit hetzt, tut dies stets im Gestus eines Wagnisses. Selbst Thilo Sarrazin, der in aller Offenheit auf völkisches Gedankengut rekurriert, mochte der heutige Bundespräsident bei allem Widerspruch eines nicht absprechen: den Mut. Aber was ist daran mutig, etwas zu schreiben, wofür einem Geld, Ruhm und millionenfache Zustimmung sicher sind?

Am 18. Juni hat der Frankfurter Schriftsteller Martin Mosebach in der Frankfurter Rundschau (für Berlin: in der Berliner Zeitung) einen Beitrag über eine etwaige Strafbarkeit der Blasphemie publiziert, der in der veröffentlichten Meinung auf vollständige Ablehnung gestoßen ist. Viele der Gegenartikel weiteten die Schmähung auf das gesamte Werk Mosebachs aus und bemühten sich unter Herbeizitierung negativer Rezensionen, den Schriftsteller als solchen unmöglich zu machen. Ob Linksintellektuelle wie Ingo Schulze oder Sibylle Berg, ob rechtsstehende Foren wie political incorrect oder achgut - sie alle kritisieren Mosebach nicht nur, sondern sprechen ihm die publizistische Satisfaktionsfähigkeit ab.

Durchweg im Konjunktiv formuliert

Scrollt man dann im Internet die Leserkommentare unter den Artikeln herunter, die den angeblichen Provokateuren der politischen Korrektheit sonst zuverlässig Beistand leisten, steigert sich die Verurteilung Mosebachs rasch zur Beleidigung und zu regelrechten Hasstiraden. Dass aus den Kirchen keine Zustimmung kommt, wenn jemand auf den Schutz religiöser Gefühle abhebt, versteht sich beinah von selbst. Aber selbst die konservativen Verbände der Muslime schweigen, denen der Schriftsteller doch aus dem Herzen gesprochen haben müsste. Hier wäre das Attribut des Muts tatsächlich einmal angebracht: Für die religiös entleerte Öffentlichkeit scheint es kaum Blasphemischeres zu geben, als das Recht auf Blasphemie infrage zu stellen.

Nun fordert Mosebachs Beitrag tatsächlich zum Widerspruch auf. Das Mitgefühl mit empörten Muslimen, "die blasphemischen Künstlern - wenn wir es einmal so nennen wollen - einen gewaltigen Schrecken einjagen", ist schwer erträglich, wenn gleichzeitig in Deutschland ein Rapper nach Mordaufrufen iranischer Ajatollahs um sein Leben fürchtet (siehe SZ vom 29. Juni). Die Vorstellung, dass die Beschränkung ihrer Freiheit der Kunst gerade förderlich sei, mag historisch zu belegen oder genieästhetischer Kitsch sein - daraus den Wunsch nach Unfreiheit abzuleiten, wäre nicht nur politisch fatal, sondern degradierte den ästhetischen Vorgang zu einem masochistischen Akt.

Vor allem jedoch gibt es eine Reihe von guten und übrigens auch religiösen Gründen, warum Blasphemie keine Angelegenheit des Strafgesetzes sein sollte. Die Geschichte des Christentums oder die Gegenwart Irans führen anschaulich vor, dass diejenigen, die andere als Gotteslästerer verurteilen, sehr selten spirituell und sehr häufig politisch motiviert sind.

Aber fordert Mosebach überhaupt eine Verschärfung des Blasphemiegesetzes, wie es allerorten entsetzt heißt? Die entsprechenden Sätze seines Artikels sind durchweg im Konjunktiv formuliert - als eine Möglichkeit, ein Gedankenspiel. Im Kontrast zu dem Bild eines dumpfen Reaktionärs, das jetzt von ihm gezeichnet wird, ist Mosebach einer der ganz wenigen weltläufigen unter den deutschen Gegenwartsschriftstellern. Seine Beschreibungen fremder und gerade auch hierzulande gering geschätzter Kulturen suchen ihresgleichen in ihrer Einfühlsamkeit und dem Respekt vor dem Andersartigen. Mosebach ist viel zu erfahren, um angesichts der religionsfeindlichen Stimmung in der Gesellschaft, die er ausführlich genug beklagt, und der politischen Mehrheiten selbst innerhalb der Christdemokratie nicht zu wissen, dass ein Verbot der Blasphemie in Deutschland außerhalb jeder Praktikabilität liegt.

"Der Glaube derjenigen, für die Gott anwesend ist"

Der eigentliche Punkt seines Beitrags, der allerdings über die Ungehörigkeit, die Schmähung des Glaubens für problematisch zu halten, undiskutiert blieb, ist der Hinweis auf die Entwertung der Religionskritik dort, wo die Religion selbst als tendenziell wertlos oder sogar schädlich angesehen wird. Schließlich rechtfertigt Martin Mosebach moralisch wie ästhetisch jene Künstler, die aus einem wahrhaft inneren Antrieb, aufgrund einer ernsthaften Auseinandersetzung meinen, "den Glauben derjenigen, für die Gott anwesend ist", beleidigen zu müssen. Was ihn umtreibt, ist die "Blasphemie als lässige Attitüde oder als kalkulierte Spielerei".

Wer als Leser, Operngänger oder Theaterbesucher je den Kopf geschüttelt hat über die Unkenntnis, die Beliebigkeit und vor allem das marktwirtschaftliche Kalkül, mit dem das Heilige im Kunstbetrieb verächtlich gemacht wird, kann Mosebachs Zorn nicht nur verstehen - er wird ihm schon aus ästhetischen Gründen zustimmen. Es ist kein Zufall, dass auf dem Podium des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen, für das Mosebach seinen Beitrag verfasst hatte, weitgehende Übereinstimmung ausgerechnet mit dem Philosophen Carl Hegemann herrschte, der als langjähriger Chefdramaturg der Berliner Volksbühne und enger Weggefährte Christoph Schlingensiefs oft genug Inszenierungen mitgeprägt hat, die im Verdacht des Gotteslästerlichen standen. Und vielleicht darf ich an dieser Stelle daran erinnern, dass mir vor drei Jahren selbst vorgeworfen wurde, das Christentum geschmäht zu haben. Damals war Martin Mosebach der erste, der mich gegen den Vertreter seiner eigenen Kirche verteidigte.

Aber die frappante Verständnislosigkeit für alles, was sich aus anderen als diesseitigen Beweggründen herleitet, ist nicht nur ästhetisch verheerend, insofern sie etwa den Zugang zu weiten Teilen der menschlichen, damit auch abendländischen und noch modernen deutschen Kunst- und Literaturgeschichte verbarrikadiert. Die religiöse Unmusikalität, die in der Regel mit einer Unkenntnis der je eigenen Tradition einhergeht, wirft auch für den Zusammenhalt der Gesellschaft gravierende Probleme auf, solange Gott noch nicht allen Bürgern oder Bevölkerungsteilen gleichgültig ist. Denn was gerne Indifferenz genannt wird, ist es ja gerade nicht, sondern häufig höchst fundamentalistisch gegenüber denen, die die Welt nicht so indifferent sehen. Das Urteil des Kölner Landgerichts, das die Beschneidung von jüdischen und muslimischen Kindern verbietet, weil sie diese ausschließlich für Körperverletzung hält, ist hierfür das jüngste Beispiel.

Natürlich: Wenn man die Wirklichkeit des Glaubens, der Tradition, der für heilig gehaltenen Schriften, des vorgeschichtlichen Rituals und des religiösen Gesetzes einmal außer Acht lässt, die Angelegenheit also rein vom Hier und Jetzt, mit der Ratio jenes Menschenverstandes betrachtet, der sich selbst für gesund hält und dabei auch die Geschichte des Antisemitismus nicht kennt, für die das Verbot der Beschneidung zentral ist, kann man, muss man vielleicht sogar in dem hochheiligen Akt nur eine Körperverletzung und einen unzulässigen Eingriff in die Autonomie eines Kindes sehen.

Eben mal so viertausend Jahre Religionsgeschichte obsolet

Wenn ein Gottesgebot nicht mehr als Hokuspokus ist und jedweder Ritus sich an dem Anspruch des aktuell herrschenden Common Sense messen lassen muss, wird die Anmaßung eines deutschen Landgerichts erklärbar, mal eben so im Handstreich viertausend Jahre Religionsgeschichte für obsolet zu erklären. In einer solchen Logik ist auch die Blasphemie etwa so schlimm wie die Beschimpfung einer Wand. Aufklärung ist etwas anderes.

Aufklärung, wie sie gerade auch die deutsche Philosophie gelehrt hat, würde heißen, die eigene Weltanschauung zu relativieren und also im eigenen Handeln und Reden immer in Rechnung zu stellen, dass andere die Welt ganz anders sehen: Ich mag an keinen Gott glauben, aber ich nehme Rücksicht darauf, dass andere es tun; uns fehlen die Möglichkeiten, letztgültig zu beurteilen, wer im Recht ist. Aufklärung ist nicht nur die Herrschaft der Vernunft, sondern zugleich das Einsehen in deren Begrenztheit.

Der Vulgärrationalismus hingegen, der sich im Urteil des Kölner Landgerichts ausdrückt, setzt den eigenen, also heutigen Verstand absolut. Von dort ist es bekanntlich nicht weit zum Biologismus, der eine rein naturwissenschaftliche Betrachtung der Schöpfung auf die Gesellschaftsanalyse überträgt. Es fällt auf, dass die gleichen rechtsgerichteten Foren, die gegen Martin Mosebach wüten, Thilo Sarrazin am vehementesten unterstützten. Aber auch von jenen Linksintellektuellen, die öffentlich gegen ihren Kollegen Stellung beziehen, ist nicht bekannt, dass sie sich so prompt auch über "Die Abschaffung Deutschlands" erregt hätten. Es hätte allerdings auch Mut erfordert, sich mit den Medienkonzernen anzulegen, von denen man als Schriftsteller abhängig ist.

Der Schriftsteller, Publizist und Orientalist Navid Kermani lebt in Köln. Zuletzt ist von ihm der Roman "Dein Name" erschienen (Carl Hanser Verlag, München 2011). In diesem Jahr wurde er mit dem Kölner Kulturpreis ausgezeichnet.

© SZ vom 30.06.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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