Comic-Reportagen aus Israel:"Alltag wie chinesische Wasserfolter"

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Ein Land, geteilt durch Beton, Elektrozäune und Misstrauen. Auf 759 Kilometern Länge umschließt Israels Sperranlage das Westjordanland. Zwei Comics erzählen vom Leben dies- und jenseits der Mauer, von unmenschlichen Schicksalen, der Sehnsucht nach Freiheit - und einer zerrissenen Gesellschaft.

Christopher Pramstaller

Israel ist das Land der Grenzen. Nirgendwo auf dieser Welt gibt es so viele Trennlinien und Absperrungen, symbolisch wie physisch. Zwischen Eilat im Süden und Haifa im Norden, Tel Aviv im Westen und Jericho im Osten findet sich jede noch so erdenkliche Barriere.

In seinen Miniaturen beschreibt Delisle Eigenarten, Absurditäten und Unmenschlichkeiten des Zusammenlebens der verschiedenen Gruppierungen in Israel. (Foto: Guy Delisle/Reprodukt)

Die massivste dieser Grenzen ist in ihren Ausmaßen nicht ohne weiteres fassbar. Wenn der Bau der israelischen Sperranlage, die das Kernland von der West Bank teilt, im Jahr 2013 abgeschlossen ist, wird sich die Mauer wie eine endlose Schlange auf 759 Kilometern durch Hügel und Täler ziehen. Eine Strecke von München bis Hamburg. Dabei ist Israel kaum größer als Hessen.

Zwei Comics erzählen von den überall erlebbaren Auswirkungen, die das Bollwerk auf das Leben dies- und jenseits der Trennlinie ausübt. Es sind persönliche Schicksale zur abstrakten Politik. Die Protagonisten sind der frankokanadische Zeichner Guy Delisle ( "Aufzeichnungen aus Jerusalem") und der Palästinenser Mahmoud Abu Srour ( "Die Mauer - Bericht aus Palästina"). Delisle ist mit Frau und Kindern für ein Jahr nach Israel gekommen - und weil sie bei "Ärzte ohne Grenzen" arbeitet, ist er frei in seinen Bewegungen. Mahmoud, seit seiner Kindheit in einem Flüchtlingslager eingeschlossen, ist umgeben von der Mauer und Checkpoints.

Männlich, jung, Terrorist

Aida, Westjordanland. Ein Flüchtlingslager in den Palästinensischen Autonomiegebieten. Es ist das Jahr 2008, kurz vor der "Operation Gegossenes Blei". Der 22-jährige Mahmoud Abu Srour arbeitet im kleinen Lebensmittelladen seiner Eltern, kurz bevor die israelischen Streitkräfte den Gaza-Streifen für einen Monat unter Dauerbeschuss nehmen.

Hinter den israelischen Sperranlagen vertreibt sich Mahmoud die Langeweile mit Zeichnen und Liebeleien. Er wird nicht aus dem Westjordanland herauskommen. Männlich, jung - eine Kombination, die ihn für manche schon zum potentiellen palästinensischen Terroristen macht. "Der Alltag ist wie die chinesische Wasserfolter", schreibt Mahmoud. "Die Tage tropfen vor sich hin, immer an dieselbe Stelle." Viel Zeit, um über seine eigene Lage und die Situation seines Volkes nachzudenken und die Frage zu stellen, ob Terror ein legitimes Mittel im bewaffneten Kampf ist.

Was treibt manche jungen Männer und Frauen aus dem Palästinenserstaat an, sich Bomben umzuschnallen und in Bussen und Cafés in die Luft zu sprengen? Wirklich die Worte des Propheten? Verzweiflung? Hass? Mahmoud hat in den poetischen Bildern, mit denen der Zeichner Maximilien Le Roy sein Leben eingefangen hat, keine Antworten. Er liefert aber Hinweise. Konsequent aus der Ich-Perspektive erzählt wird die Ausweglosigkeit seiner Lage deutlich. Dennoch sind seine Feinde nicht die Menschen, sondern die Staaten. Die anonyme Macht, die sich seiner bemächtigt und sein Leben in Bahnen zwingt, die er nicht ändern kann.

Ismael und Isaak als Urväter der Juden und Araber

Mahmoud hat keinen Hass auf die Menschen, es ist ihm egal ob jemand Jude oder Israeli, Christ, Araber oder Muslim ist. Für ihn sind Ismael und Isaak, die beiden Söhne Abrahams, die Urväter der Juden und Araber.

Guy Delisle, dessen "Aufzeichnungen aus Jerusalem" beim wichtigsten europäischen Comic-Festival in Angoulême mit dem Preis für den besten Comic des Jahres ausgezeichnet wurden, nähert sich auf gänzlich andere Weise der Gesellschaft in Israel und Palästina und ihren Konflikten an. Was nicht nur dem Umgang geschuldet ist, dass er sich ohne Passierscheine frei bewegen kann.

Für ein Jahr lebt die Familie im arabischen Viertel Beit Hanina in Ostjerusalem - Delisles Frau arbeitet als humanitäre Helferin für ein Jahr bei der Organisation "Ärzte ohne Grenzen". Das Mittel des Frankokanadiers, um sich mit dem Nahen Osten auseinanderzusetzen, ist der Cartoon, die Humoreske in Bildern. Kein anderes Mittel könnte besser geeignet sein als der Humor. Als Außenstehender ist er dabei zwar nicht völlig gefeit vor Einseitigkeiten, doch wird zumindest jedem falschen Pathos die Grundlage entzogen.

"Der Comic hat ein pädagogisches Potential, das ich gerne nutze", sagte Guy Delisle in einem Gespräch mit dem Deutschlandfunk. "Mit meinen kleinen Anekdoten aus Jerusalem bringe ich den Leser zum Schmunzeln oder zum Lachen - und vermittle ihm dennoch einiges über ein sehr ernsthaftes, ja sogar düsteres Thema. Es ist diese Mischung aus Information und Unterhaltung, die mich interessiert." Was zunächst paradox anmutet, wird zur großen Stärke der "Aufzeichnungen aus Jerusalem".

Eigenarten, Paradoxien und Unmenschlichkeiten des Zusammenlebens

Delisle, der mit seinen Comic-Reportagen aus Myanmar, China und Nordkorea bekannt wurde und darin einen beschreibenden, keinen analysierenden Blick auf teilweise vollkommen unzugängliche Kulturen wirft, unternimmt gar nicht erst den Versuch politisch zu sein. Er versucht erst gar nicht, den Konflikt im Nahen Osten in seiner historischen Dimension darzustellen. Delisle zeigt ihn lediglich in all seiner Absurdität, indem er sich als einfacher Beobachter in den israelisch-palästinensischen Alltag begibt. Er nähert sich dem Konflikt nicht als klassischer Reporter auf der Suche nach der besten Story, sondern beschreibt lediglich die Eigenarten, Paradoxien und Unmenschlichkeiten des Zusammenlebens der verschiedenen Gruppierungen auf.

Muslima kaufen im Supermarkt der Siedler, diese lassen bei den Palästinensern ihre Autos reparieren, im Zoo tragen Zivilisten Maschinengewehre und in Mea Shearim, dem Schtetl Jerusalems, besaufen sich sonst abstinente Ultraorthodoxe am Purim-Fest dermaßen, dass sogar die Kinder auf der Straße rauchen.

Zwei Geschichten aus dem heutigen Israel, zwei Tonlagen und Perspektiven die kaum unterschiedlicher sein könnten. Und dennoch schildern sie auf gleichfalls eindrückliche Weise das Leben zwischen Normalität und Absurdität, zwischen tiefem religiösem Glauben und der Suche nach Freiheit.

Maximilien Le Roy: Die Mauer - Bericht aus Palästina. Edition Moderne 2012. 104 Seiten, 19,80 Euro

Guy Delisle: Aufzeichnungen aus Jerusalem. Reprodukt 2012. 336 Seiten, 29 Euro

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