Nachruf auf Carlos Saura:In der Höhle der Erinnerungen

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Filme voll wölfischer Aggression und maskuliner Dominanz: Carlos Saura (1932 - 2023). (Foto: Lionel Bonaventure/AFP)

Sein Werk war größer als seine bekannten Tanzfilme wie "Carmen" - zum Tod des spanischen Regisseurs Carlos Saura.

Von Fritz Göttler

Einsamkeit und Verlassenheit, sie sind auf herzergreifende Weise präsent in diesem Moment: Ein kleines Mädchen, Ana, acht Jahre alt, legt den Tonarm auf die Single auf ihrem kleinen Plattenspieler, und das Lied beginnt, das durch den Film weltbekannt wurde: "Porque te vas" - die Klage über einen verlorenen Geliebten.

Das Mädchen ist Ana Torrent, der Film ist "Cría Cuervos / Züchte Raben" von 1975. Ana hat ihre Mutter verloren, mit ihren beiden Schwestern fängt sie an, sich in einem Tanz zur Musik zu drehen, so zauberhaft tapsig, wie das kleine Lied dahintrudelt: "Hinter den Zeigern einer Uhr warten all die Stunden, die wir noch zu leben haben, sie warten dort. Alle Stunden, die noch zu leben sind, sie werden warten."

Es ist ein stiller, wunderbarer Moment im gewaltigen Werk von Carlos Saura. Geraldine Chaplin ist Anas Mutter und dann, eine Doppelrolle, auch die erwachsen gewordene Ana, die sich an die Kindheit erinnert. Chaplin war damals Sauras Lebensgefährtin, sie war in neun Filmen der Sechziger und Siebziger von ihm dabei, von "Peppermint Frappé", 1967, bis "Mamá cumple cien años/ Mama wird 100 Jahre alt", 1979.

Oft war sie naives Opfer der Männer, in Filmen, die laut und aggressiv waren, voll von wölfischer Aggression und maskuliner Dominanz, von großbürgerlichen Potenzvisionen und faschistischen Machtgelüsten, wie Saura - geboren am 4. Januar 1932 in Huesca, Aragonien - sie erlebte im Franco-Spanien. Natürlich spielen Träume eine große Rolle, und wie sie die Wirklichkeit bestimmen und deformieren.

Der Rhythmus der Flamenco-Frauen erschüttert die Ordnung der Männer

Saura ist stark beeindruckt von Luis Buñuel (wie auch von Ingmar Bergman und Federico Fellini). "Höhle der Erinnerungen", der deutsche Titel eines seiner Filme, passt sehr schön für Sauras Werk, oder gleich für das Kino als Ort einer Regression, einer Flucht. Immer wieder hat er mit der Franco-Zensur deswegen Schwierigkeiten gehabt ("Was darf man denn zeigen?" - "Alles, was Sie wollen - außer Sex, Politik und Religion!"), und immer wieder sind deswegen seine Filme auf den großen internationalen Festivals ausgezeichnet worden, in Berlin oder in Cannes.

In Cannes hat er, als er 1960 seinen Film "Los golfos" präsentierte, Luis Buñuel getroffen, und sie sind Freunde geworden. Ein berühmtes Foto zeigt die beiden beim Dreh von Sauras Film "Llanto por un bandido", eine historische Freiheitskämpfer-Ballade, 1964, zwei Profis in höchster Konzentration. Buñuel spielt einen Henker, der im Film ein paar Hinrichtungen exekutieren wird, mit der Garotte, einer Schraube, die den Delinquenten den Hals zudrückt.

In den Achtzigern begann Saura dann seine Trilogie von Tanzfilmen - er hatte selbst Flamencotänzer werden wollen, dann aber erst ein Ingenieursstudium absolviert und danach eins an der Filmschule in Madrid. Die Filme waren alle Welterfolge, "Bodas de sangre / Bluthochzeit", 1981 nach dem Stück von Lorca, "Carmen", 1983, nach Bizets Oper, und "El amor brujo / Liebeszauber", 1986 nach dem Ballett von Manuel de Falla. Der harte Rhythmus der Flamenco-Frauen erschüttert hier die Ordnung der Männer - aber ohne eine Gegenordnung aufzubauen.

Auch im Alter war Sauras Energie unerschöpflich, 2000 schrieb er einen ersten Roman, über den Bürgerkrieg, "¡Esa Luz! /Dieses Licht!", im Augenblick seines Todes arbeitete er an einem Picasso-Projekt und war dabei, einen Film über Johann Sebastian Bach fertigzustellen.

Vor fünf Jahren hat er einen kleinen Film über den Architekten Renzo Piano gedreht, als der ein Kulturzentrum in der Küstenstadt Santander baute. Ein Bauwerk, das ins Meer hinausweist, das schweben soll, ohne Erdberührung. Ein Kinotraum. Man blickt ins Dunkel, erklärt Piano den Ursprung seiner Vision. Das gilt auf berührende Weise auch für das Kino des Carlos Saura, man braucht einen Moment der Stille, der Leere... Es gibt einen dünnen Faden, der Technik und Poesie verbindet. Am Freitag ist Carlos Saura im Alter von 91 Jahren gestorben.

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