Festival von Cannes 2021:Die Vergänglichkeit des Glücks

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Eine Geschichte über die Unbeschwertheit der Jugend: "The Worst Person In The World" von Joachim Trier läuft im Wettbewerb des Festivals. (Foto: Cannes Festival)

Spike Lee geht in Cannes Filmplakate shoppen, und Charlotte Gainsbourg hat eine Doku über ihre Mutter Jane Birkin gedreht .

Von Tobias Kniebe

Als die Nachricht kam, dass Spike Lee in diesem Jahr Präsident der Jury wird, hat sich in Cannes niemand mehr gefreut als Paul aus der Rue Meynadier. In der engen Gasse am Hafen betreibt Paul, Mitte fünfzig, inmitten duftender Delikatessenläden die Boutique Cinéma: mit alten Filmpostern, Schauspielerfotos und Kino-Memorabilia. Paul erzählt seinen Kunden gern von "Spike": Ein wahrer Sammler sei das, bei jedem Cannes-Besuch komme er vorbei und kaufe Plakate, Godard, Truffaut, all die großen Meister, Seltenheiten lasse er sich sogar nach New York schicken. Das offizielle, brandneue Cannes-Poster des Jahrgangs 2021, dass Spike selbst zeigt, wie er in den palmengesäumten Himmel der Riviera blickt, hat Paul auch im Angebot. Spike habe ihm versprochen, sagt er, für eine Signierstunde vorbeizukommen.

Aber erst mal hat Spike Lee natürlich wenig Zeit, denn es läuft ja der Wettbewerb. Und die Jury, zu der neben ihm unter anderen die Schauspielerinnen Maggie Gyllenhaal und Mélanie Laurent und die österreichische Regisseurin Jessica Hausner gehören, hatte in den ersten Tagen schon einige starke Filme zu bewerten. Ein gemeinsames Gefühl scheint diese Geschichten zu verbinden, das mit der Zeit ihrer Entstehung in der Pandemie zusammenhängt, auch wenn diese bisher nicht direkt in den Stoffen auftaucht. Stattdessen ging es sehr viel ums Abschiednehmen, um die Fragilität unserer engsten Verbindungen, um die Schmerzen des Verlusts und den Schatz der Erinnerungen.

Charlotte Gainsbourg und Jane Birkin reden über Papa Serge und den Rest der Familie in "Jane par Charlotte". (Foto: Cannes Festival)

Den Anfang machte François Ozon, gewohnt verlässlich als ein Geschichtenerzähler, der immer wieder die interessantesten Frauenfiguren aufspürt und Schauspielerinnen anvertraut, die dann unter seiner Führung überzeugender glänzen als fast überall sonst. Diesmal ist es Sophie Marceau, jetzt Mitte fünfzig, der er seinen Film "Tout s'est bien passé / Alles ist gutgegangen" quasi zu Füßen legt. Spannend zu sehen, wie er sie behutsam weglotst von ihren Sicherheiten, wie Marceau etwa noch ihre patentierte, fluffig geföhnte, kastanienbraune Starfrisur tragen darf, die sie durch all die "La Boum"- und James-Bond-Jahre begleitet hat, sich dann aber doch auf völlig neues Terrain begeben muss.

Es geht um Sterbehilfe, auf der Grundlage eines Erinnerungsbuches von Emmanuèle Bernheim, die für Ozon schon einige Drehbücher geschrieben hat. Diesmal erzählt sie sehr persönlich von ihrem raumgreifenden, schwul lebenden und doch mit ihrer depressiven Mutter verheirateten Industriellen-Vater, gespielt von André Dussollier, der nach einem Schlaganfall mit schweren Folgen beschließt, seinem Leben ein Ende zu setzen, durch Sterbehilfe in der Schweiz. Dafür verlangt er die Hilfe seiner Tochter, die sich damit in Frankreich womöglich strafbar macht, aber der Weg vom Schock über die Akzeptanz zur späten Komplizenschaft, die sie vorher nie hatten, ist wunderbar erzählt. Und Hanna Schygulla taucht als eine Art Todesengel aus den Bergen auf, mit ihrer irre beruhigenden Präsenz.

In der Rue Meynadier liegt die Boutique Cinéma, wo Spike Lee Fotos von sich selbst signiert - der Besitzer ist glücklich

Gar nicht im Wettbewerb, aber doch ein absolutes Filmjuwel: "Jane par Charlotte", eine sehr persönliche Dokumentation, die Charlotte Gainsbourg mit ihrer Mutter Jane Birkin gedreht hat. Von der ersten Minute an, in der sich diese beiden Frauen gegenübersitzen und dann auch gleich darüber reden, warum sie es tun und wie seltsam das ist, nimmt einen dieser Film vollkommen gefangen. In ihrer unbeirrbar sanften und dennoch gnadenlos offenen Art erzählt Birkin zum Beispiel, was für ein Mysterium die kleine Charlotte immer für sie war, in sich gekehrt und schweigsam, sodass sie nie so geschimpft werden konnte wie ihre Schwestern.

Man spürt, dass in dem ganzen Film kein einziges falsches oder unehrliches Wort gesprochen wird, und dass man dennoch dabei sein darf, weil Birkin eben das Vorbild an Unvoreingenommenheit und Güte ist, dem Gainsbourg in ihrer eigenen stillen Art nachstrebt. So schmerzhaft auch hier manche Dinge sind, wenn es um das Scheitern von Birkins erster Ehe mit dem Komponisten John Barry geht, das exzessive Trinken mit Serge Gainsbourg oder den mysteriösen Tod der Tochter und Schwester Kate im Jahr 2013, so tröstlich ist das Reden darüber, selbst vor der Kamera. Einmal gehen die beiden durch das alte Haus und Studio, wo der alte Gainsbourg lebte und arbeitete, und wo seit seinem Tod praktisch nichts verändert wurde. Seine Präsenz ist in diesem Moment bewegend spürbar.

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Selbst in diesen glücklichen Tagen von Cannes, wo alle bereit sind, die Rückkehr des Kinos auch mal mit extralangen Ovationen zu feiern, schleicht sie also sich immer wieder ein, die Vergänglichkeit des Glücks. Und damit sind auch die Toten der Pandemie sehr präsent. Sogar in dem Film "Verdens verste menneske / The Worst Person in the World" des norwegischen Regisseurs Joachim Trier. Da geht es eigentlich um eine junge Frau in Oslo, die sich zwischen zwei gleichermaßen spannenden Männern selbst finden muss, auf durchaus sehr moderne Art, und eigentlich hat der Film alle Unbeschwertheit der Jugend und des Ausprobierens. Aber auch diese Geschichte nimmt dann eine tragische Wendung, handelt vom Verschwinden vertrauter Dinge, von Rückschau und von der zentralen Erkenntnis einer schweren Zeit: Wie wichtig wir doch füreinander sind.

Am Abend eines langen Filmtages führt der Weg dann wieder einmal durch die Rue Meynadier, wo das gemietete Apartment gleich um die Ecke liegt. An der Boutique Cinéma ist ein neues Foto ausgestellt: Spike Lee, wie er sich auf seinen Cannes-Postern gewissermaßen selbst signiert - mit Paul an seiner Seite. "Er hat so viel zu tun", sagt Paul, "aber er hat Wort gehalten." Welcher andere Jurypräsident würde sich schon Zeit für solche Aktionen nehmen, fragt Paul sich selbst und weiß auch gleich die Antwort: Niemand außer Spike, seinem Freund.

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