"Annette" eröffnet Cannes:Drama an der Côte d'Azur

Pressebilder: Cannes-Eröffnungsfilm "Annette"

Marion Cotillard im Eröffnungsfilm "Annette".

(Foto: Festival Cannes)

Das Filmfestival von Cannes beginnt mit dem bizarren Pop-Musical "Annette" mit Marion Cotillard und Adam Driver.

Von Tobias Kniebe

Der Saal wird dunkel, der Film geht los, aber das Bild auf der Leinwand bleibt schwarz. Stattdessen spricht eine Männerstimme, englisch mit französischem Akzent. Sie fordert absolute Aufmerksamkeit und Stille, totale Konzentration auf die Show, die gleich losgehen wird. "Sogar atmen kann nicht toleriert werden", sagt sie. "Atmen Sie noch einmal ein, bevor es losgeht." Und tatsächlich hört man Menschen, die jetzt laut die Luft einsaugen.

So begann am Dienstag der Eröffnungsfilm der 74. Filmfestspiele von Cannes, das Musical "Annette" mit Marion Cotillard und Adam Driver. Alle Menschen im Publikum trugen Maske, alle waren entweder durchgeimpft oder frisch getestet - und manche fragten sich wohl für eine Sekunde, ob auch diese neue Regel strikt zu befolgen sei. Es war dann aber keine ins Absurde gesteigerte Hygienemaßnahme, sondern nur die Einstimmung des französischen Regisseurs Leos Carax in sein sehr spezielles Werk: eine Vorankündigung tranceartiger Zustände, die einem dann wirklich den Atem rauben sollten.

Europäische Impfnachweise akzeptieren die strengen Türsteher, aber die Amerikaner müssen alle zum Testen

Welch ein Drama aber, überhaupt bis zu diesem Moment zu kommen! Nachdem das Festival letztes Jahr komplett ausgefallen war, hatte man diesmal mit Verschiebung reagiert: Vom lieblichen Mai an der Côte d'Azur, wo die Sonne sich gerade erst warmläuft, hinein in den Hochsommerwahnsinn des Julis. Die Hoffnung, dass die Impfungen und die brennende Hitze das Virus weit genug ausbremsen würden, um ein Zusammentreffen der Filmnationen zu wagen, wurde immer realer, mit der Vorfreude stieg aber auch die Angst vor der letzten Minute: Ein deutscher QR-Code mit Impfnachweis auf der einen, ein kopfschüttelnder französischer Aufseher auf der anderen Seite, dazu ein Scanner, der hässliche Töne der Ablehnung von sich gibt. Aus der Traum vom Kino, sorry. Vraiment désolé.

Dieser persönliche Albtraum des Kritikers hat sich nicht erfüllt - nicht für ihn und auch nicht für die die meisten Europäer. Überfälliger Triumph des Gemeinschafsgedankens: die Scanner von Cannes können europäische Anti-Covid-Codes lesen. Weniger Glück hat man allerdings mit Zertifikaten aus dem Rest der Welt. So sah man durchgeimpfte Amerikaner, die fluchend zu einer Ehrenrunde ins angrenzende Testzelt geschickt wurden. Sie werden jetzt eisenhart wie Ungeimpfte behandelt und müssen die Testprozedur alle 48 Stunden wiederholen. Es gilt das alte Leidensmotto der Cineasten: Was tut man nicht alles für Cannes...

Egal, jetzt geht es wirklich los auf der Leinwand, und tatsächlich wird auch sofort gesungen. Als erstes singen zwei ältere Herren, die man schnell - diese Kopfstimme! dieser Bleistift-Schnauzer! - als das Gesangsduo Sparks identifiziert. Ron und Russell Mael aus Los Angeles sind die Masterminds des ganzen Unternehmens "Annette", sie haben die Story entwickelt und all die Donnerchor-Dramapop-Songs geschrieben, die man den Film über hören wird. In dem Franzosen Leos Carax haben sie einen Seelenverwandten gefunden. Das Ergebnis ist so seltsam, dass es schon wieder faszinierend ist.

Gleich mit dem ersten Film wird man als Zuschauer aus der Bahn geworfen

Da ist Marion Cotillard, die eine berühmte Sopranistin spielt, die auf den Opernbühnen der Welt jeden Abend dramatisch sterben muss, mal schwindsüchtig röchelnd, mal grandios im Untergang. Sie hat sich unsterblich in Adam Driver verliebt, einen Superstar auf den Comedybühnen Amerikas, dessen Soloshow im grünen Bademantel jeden Abend die Massen zum Toben bringt. Warum genau, ist nicht ganz klar, komisch ist er eigentlich nicht. Seine Show ist voller Selbsthass und Bekenntniswut, zum Teil auch Publikumsbeschimpfung im gesungenen Wechselspiel. Aber was Driver da spielt - mal brütend und intensiv und genuin gefährlich, dann wieder singend und herumtollend ohne jedes Sicherheitsnetz - ist schon wirklich eine Schau für sich.

So richtig bizarr wird es, als die beiden ein Mädchen namens Annette bekommen, es herzen und küssen und über alles lieben, obwohl Annette eine Holzpuppe ist. Sie hat rote Haare, abstehende Ohren und ein technisches Innenleben, dass ihr ruckartige Bewegung erlaubt, und einmal sieht man auch ein rotglühendes Herz in ihrem Inneren schlagen, ganz wie seinerzeit bei Steven Spielberg und "E.T.", dem Außerirdischen. Ein Gruselbaby par excellence, aus dessen Holzmund dann auch noch engelsgleicher Gesang ertönt. Da ist ihre Mutter allerdings schon tot, vom Vater ermordet, und vielleicht ist es ihre ruhelos umherirrende Sopranistinnenseele, die da durch den Leib ihrer hölzernen Tochter strömt...

Aber wer kann das schon sagen? Bei diesem Eröffnungsfilm muss die Logik vollständig die Waffen strecken, die meisten Fragen bleiben unbeantwortet. Aber irgendwie ist das auch wieder schön, und vor allem ist es typisch für Cannes. Gleich mit dem ersten Film wird man als Zuschauer aus der Bahn geworfen, hinauskatapultiert aus allen gängigen Kategorien und Wertungen, und ist dann wieder bereit für ein Staunen und Gruseln und Rätseln, das im dunklen Kinosaal am allerbesten funktioniert. Gute Einstimmung also in die unterschiedlichsten filmischen Welten, in denen man hier in den nächsten zehn Tagen noch versinken wird.

Zur SZ-Startseite

Kinocharts in der Pandemie
:Glücklich dank Godzilla

Die Angst war groß, aber unbegründet: Trotz Pandemie, Sommer und EM gehen viele Menschen in die wieder eröffneten Kinos.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: