Als am 13. Mai 2014 Hunderte Kumpel in Soma verschüttet werden und sich abzeichnet, dass sich in der westtürkischen Stadt ein verheerendes Grubenunglück ereignet hat, macht sich der Spiegel-Korrespondent Haznain Kazim auf den Weg. Er trifft auf aufgebrachte Bergleute, die sich empören über die herzlose Reaktion ihres Premierministers Recep Tayyip Erdoğan. Der hatte sie kurz vorher belehrt, Unglücke gehörten beim Bergbau eben dazu. Am Ende können 301 Kumpel nur noch tot geborgen werden. Ein Bergmann, mit dem Kazim spricht, wütet, er wolle Erdoğan nur noch sagen: "Scher dich zum Teufel!" Die Redaktion von Spiegel Online macht das Zitat zur Überschrift. Was folgt, ist eine Hexenjagd, die aus Sicht des Journalisten viel erzählt über die türkische Gesellschaft.
Das Zitat - teils falsch verstanden als Meinungsäußerung Kazims - entfesselt im Internet einen Mob, der auch vor Drohungen nicht zurückschreckt. Fanatische Erdoğan-Anhänger beschimpften ihn als Verräter, Spion und Nazi. Türkische Medien greifen die Sache auf und werfen ihm vor, Desinformation zu betreiben. Kazim und seine Familie beschließen, die Türkei vorübergehend zu verlassen. Unter Erdoğan, resümiert er die Episode, waren "alternative Fakten" längst alltäglich geworden, und Verschwörungstheorien "der Kitt, der die türkische Gesellschaft zusammenhält".
Kazims Zeit als Korrespondent von 2013 bis 2016 bildet so etwas wie die Rahmenhandlung seines Buches "Krisenstaat Türkei", und zum Reiz dieser Perspektive gehört, dass der in Oldenburg geborene Journalist mit pakistanisch-indischen Wurzeln vorher einige Jahre in Pakistan gearbeitet hat. Als er und seine Frau 2013 nach Istanbul ziehen, zeichnet sich zwar schon ab, in welche Richtung sich das Land in den nächsten Jahren entwickeln würde. Doch im Vergleich zu Pakistan erscheint ihm die Türkei zunächst als Hort der Liberalität.
Für Inga Rogg ist der Staat wie ein Druckkochtopf, der jederzeit explodieren kann
Ein Eindruck, der allerdings nicht lange vorhält. In eher thematisch als chronologisch geordneten Kapiteln beschreibt Kazim den Niedergang eines Landes, das vor nicht allzu langer Zeit noch als Modell für eine islamisch geprägte Demokratie galt. Heute gibt es Krisen, wohin man blickt: Im Südosten geht der Krieg zwischen der Kurdenguerilla PKK und der Armee in immer neue Runden, kurdische Extremisten und Anhänger der Dschihadisten-Miliz IS verbreiten mit ihren Bomben Angst und Schrecken; außenpolitisch liegt die Türkei mit Europa im Clinch, den USA, auch mit vielen arabischen Nachbarn; im Inneren betreiben Erdoğan, seit 2014 Staatspräsident, und seine konservativ-islamische AKP Raubbau an der Demokratie. Kazim mischt seine Analyse mit Reportage-Elementen, hie und da reflektiert er auch seine Rolle als Beobachter, als Journalist.
So leicht sich sein Buch auch liest, sein Ausblick ist zutiefst pessimistisch. Immer mehr, so Kazim, zementiert Erdoğan seine Macht; die jüngste wichtige Etappe auf diesem Weg war das Verfassungsreferendum im April dieses Jahres, in dem eine knappe (und umstrittene) Mehrheit für die Einführung eines Präsidialsystems stimmte. Ein Ende dieser Entwicklung, schreibt er, sei nicht absehbar.
Ein ähnlich krisenhaftes Bild zeichnet Inga Rogg, langjährige NZZ-Korrespondentin in Bagdad und Istanbul, in ihrem Buch "Türkei, die unfertige Nation". Sie ist überzeugt, dass es Erdoğan vor allem um eins geht: um die Absicherung seiner Macht. Doch sie ist deutlich skeptischer, was die Stabilität des Systems angeht. In ihrer Darstellung wirkt die Türkei wie ein Druckkochtopf, der jederzeit explodieren kann. Die "neue Türkei" Recep Tayyip Erdoğans sei heute "nicht größer und stärker, wie er es seinen Anhängern predigt, sondern isolierter und gespaltener denn je", schreibt Rogg. Und dass der Präsident auf die Bremse treten müsse - sonst sei "ein Crash der ,neuen Türkei' so gut wie unvermeidlich". Zwischen den verschiedenen Lagern wüchsen Wut und Hass. Schon während der Gezi-Proteste 2013 seien fanatische Erdoğan-Anhänger mit Messern auf Kritiker losgegangen. Heute könne die Lage schnell außer Kontrolle geraten.
Beide, Kazim und Rogg, haben eine politische Bestandsaufnahme vorgelegt; der Frage, wie sich denn das Abgleiten der Türkei in die Autokratie aufhalten ließe, widmen sie sich nur auf wenigen Zeilen in ihren Schlusskapiteln. Kazim wirft der Bundesregierung vor, sich mit Kritik allzu lange zurückgehalten zu haben; doch hätte sich Erdoğan von mehr Strenge wirklich beeindrucken lassen? Der türkischen Zivilgesellschaft traut er derzeit nicht zu, das Ruder herumzureißen. "Die Akteure von Gezi klammern sich an die Hoffnung, dass der Geist der Proteste und die andere, demokratische, bunte Seite der Türkei noch lebe. Tatsache ist aber, dass die Türkei heute undemokratischer ist denn je", schreibt er.