Bob-Dylan-Dokumentation:Es wimmelt von Verrückten

Lesezeit: 4 min

Im Scorsese-Film"Rolling Thunder" (Netflix) behauptet Bob Dylan, er könne sich an die Tour von 1975 nicht mehr erinnern. (Foto: N/A)

Martin Scorsese hat einen Netflix-Film über Bob Dylans "Rolling Thunder"-Tour gedreht. Was Fiktion ist und was Realität, ist dabei fast egal.

Von Theresa Hein

Einen Zirkus wollte Bob Dylan haben, und dass diese Tour ein Zirkus werden sollte, das war Sam Shepard schon im ersten Moment klar. Der Schauspieler und Dramatiker war als Autor für einen Film engagiert worden, den Dylan während seiner "Rolling Thunder Revue"-Tour drehen wollte. Wie er damals in Dylans Apartment in Manhattan eintraf, beschrieb Shepard in seinen Begleitnotizen zur Tour: Dylans Augen suchen nach einem Fluchtweg aus seiner Ecke des Zimmers, während sein Kumpel Phil Ochs ihm den Plot eines Charles-Bronson-Films erklären will, eine junge Frau irgendwas vom Heiraten faselt und unten vom Gehsteig Allen Ginsberg heraufplärrt, er sei so weit, man könne jetzt seine Gedichtrezitationen aufnehmen. "Es wimmelt von Verrückten", schreibt Shepard, "dabei haben wir die Stadt noch gar nicht verlassen."

Lange konnte man von dieser legendären Tour, die von 1975 bis 1976 lief, nur lesen, 2002 wurde ein Doppelalbum veröffentlicht. Und jetzt liefert Regisseur Martin Scorsese unter dem etwas sperrigen Altmeisterdoppeltitel "The Rolling Thunder Revue: A Bob Dylan Story by Martin Scorsese" nachträglich die Bilder zur Tour. Scorsese ist einer der vielen preisgekrönten amerikanischen Regisseure, die trotz ihres Starstatus Schwierigkeiten haben, von den Filmstudios ihre Projekte finanziert zu bekommen. Weshalb er die Dokumentation mithilfe des Streamingdienstes Netflix gestemmt hat. Sie ist eine Art Vorabauftakt zu einer Kooperation, die sich vor allem um Scorseses Rückkehr zum Genre des Mafiathrillers dreht: Für Netflix hat er ebenfalls das Gangsterdrama "The Irishman" abgedreht, mit Robert De Niro und Al Pacino in den Hauptrollen, das im Herbst Premiere feiern soll.

Harvey Keitel
:Aggressiv und fies

Das Handwerk bringt einen weit, aber von einem gewissen Punkt an muss man sich als Schauspieler auch dem Mysterium anvertrauen: Harvey Keitel wird 80.

Von Fritz Göttler

Nun aber hat er sich vorher noch mal seinem alten Kumpel Dylan gewidmet. In einer neuen, für die Dokumentation geführten Interviewsequenz, versucht Dylan sich zu erinnern, worum es bei der "Rolling Thunder"- Tour eigentlich ging. Schelmisch lächelnd gibt er eine seiner typischen Bob-Dylan-Antworten: "Um nix, ich erinnere mich an nichts, das ist alles so lange her, da war ich doch noch nicht einmal geboren".

Für das, woran sich Bob Dylan angeblich nicht mehr erinnern kann, fühlt sich nun also Scorsese verantwortlich, den man getrost als Experten bezeichnen kann. In seiner zweiteiligen Dokumentation "No Direction Home" porträtierte er 2005 retrospektiv Dylans Aufstieg in der Folkszene sowie seine Umkehr zur elektronischen Musik, mit der er einst viele Fans kränkte.

Die Tour fand nicht in Stadien statt, sondern in Tennishallen und Gemeindezentren

"Rolling Thunder" funktioniert fast wie eine Fortsetzung, und weil Scorsese ja weiß, dass man bei einer Bob-Dylan-Dokumentation am allerwenigsten auf die Hilfe von Bob Dylan setzen kann, entspricht dieses Sequel einem Lieblingsmantra des Regisseurs: Wenn du etwas willst, dann mach es gefälligst selbst. Er konzentriert sich auf das, was die "Rolling Thunder"-Tour ausmachte.

Inspiriert von einem Lagerfeuererlebnis in einem Roma-Camp in Frankreich, scharte Bob Dylan Künstlervolk um sich, bestehend aus bekannten Musikerkolleginnen und Kollegen wie T-Bone Burnett, Joan Baez, Bob Neuwirth, Joni Mitchell. Allen Ginsberg packte er auch noch ein (vielleicht auch nur, weil er gerade da war). Außerdem kamen noch Menschen dazu, die er in kleinen Käffern während der Tour traf und einlud, mitzuspielen. Und zwar nicht in Stadien, wie er es im Jahr vor dem "Rolling Thunder"-Zirkus mit The Band getan hatte. Sondern in kleinen Locations, in Tennishallen und Gemeindezentren oder in einem Hotel in Massachusetts, in dem ein paar ältere Damen verabredet waren, um Mah-Jongg zu spielen, die eher der Höflichkeit halber zuhörten (Shepard beschrieb sie später als "Gefangene in ihrer eigenen Strandhochburg").

Was wahr ist? Die Konzertszenen auf jeden Fall

Der Film ist eine meisterhafte Schneideraumkleinarbeit aus Archivmaterial, das ein erfundener Filmemacher ("Steve van Dorp") erklärt, neuen Interviews und Szenen des Dylan-Filmfiaskos "Renaldo & Clara". Immer lässt Scorsese den Zuschauer entscheiden, was Fiktion ist, und was Realität.

Nur bei den Konzertszenen gibt es keinen Zweifel. Dabei geht es nie um den Zirkusdirektor Dylan allein, sondern um die Kraft der Gruppe. Wie Ginsberg es in einer Szene formuliert: "Dylan zeigt, wie schön er ist, indem er zeigt, wie schön das Ensemble ist". Natürlich bleibt er, hinter verschiedenen Masken, das Zentrum. Aber wenn Mick Ronson und T-Bone Burnett sich verausgaben, um zu zeigen, dass "Knockin' on Heaven's Door" halt doch ein sehr guter Popsong ist (sofern man ihn nicht mit einem Gitarrenschüler durchnudelt, sondern mit einer fantastischen Band und Dylan persönlich), dann begreift man: Das ist nur möglich, weil ein Haufen Einzelgänger zur Gruppe verschmelzen. Und wenn Dylan, weiß geschminkt und mit Blumenhut, in "Simple Twist of Fate" von dieser unerklärlichen Leere, die einfach so über einen hereinbrechen kann, singt, dann ist das wirklich ein zum An-gebrochenem-Herzen-Sterben schöner Filmmoment.

Weil Scorsese zu den wichtigsten Chronisten amerikanischer Befindlichkeiten gehört - 1976, während Dylan auf Tour war, drehte er seinen "Taxi Driver" -, ist "Rolling Thunder" auch ein Kommentar über das Amerika der Vergangenheit und Gegenwart. Dylans Song über den zu Unrecht als Mörder verurteilten Boxer Rubin "Hurricane" Carter inszeniert er als eine Geburtsstunde der "Black Lives Matter"-Bewegung. Dann spielt Bob Dylan leise mit Joan Baez "I Dreamed I Saw St. Augustine", in dem er teilweise so schief singt, als wolle er die Lage des Landes illustrieren. Aber natürlich singt er einfach nur schief.

Sicher wird es Leute geben, die finden, dass diesen Film nun wirklich kein Mensch gebraucht hat. Für alle anderen ist er das, was er zu sein beansprucht: ein Traum.

Rolling Thunder Revue: A Bob Dylan Story by Martin Scorsese , USA 2019 - Regie: Martin Scorsese. Mit: Bob Dylan, Patti Smith. Netflix, 142 Minuten.

© SZ vom 13.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusJoan Baez
:Die barfüßige Madonna

Joan Baez, die First Lady des Protestsongs, verlor ihre Stimme und stürzte in eine tiefe Krise. Nun ist sie zurück, singt wieder und kämpft für eine gerechte Welt.

Von Willi Winkler

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: