Schon wieder Ärger an der Berliner Volksbühne. Nachdem der Museumsmann Chris Dercon im April 2018 nach nur sieben Monaten im Amt wegen Misswirtschaft als Intendant wieder gehen musste, folgt nun der nächste vorzeitige Abgang: Klaus Dörr, Interimsintendant an dem Haus seit 2018, gibt sein Amt nach "Me Too"-Vorwürfen schon an diesem Dienstag auf. Laut eines Rechercheartikels der taz vom Wochenende haben sich mehrere Mitarbeiterinnen des Theaters bei der Kulturverwaltung über den Intendanten wegen sexualisierter Übergriffe beschwert. Für die gegen ihn erhobenen Vorwürfe übernehme er die komplette Verantwortung, schreibt Dörr in einer am Montagnachmittag versandten Pressemitteilung der Volksbühne. "Ich bedaure zutiefst, wenn ich Mitarbeiter:innen mit meinem Verhalten, mit Worten oder Blicken verletzt habe."
Die Rede ist von sexistischen Sprüchen und körperlicher Nähe
In den Beschwerden der an der Volksbühne beschäftigten, weitgehend anonym bleibenden Frauen gegen den Intendanten ist von übergriffigem Machtgebaren und unangemessen sexualisiertem Verhalten die Rede: "enge, intime, körperliche Nähe und Berührungen, erotisierende Bemerkungen, anzügliche Witze, sexistische Sprüche, Aufforderung zum Tragen von hochhackigen Schuhen, stierende Blicke, unverhohlenes Anstarren auf die Brust, unangemessene SMS". Auch ein "vergiftetes Betriebsklima" und Diskriminierung aufgrund des Alters der Betroffenen werden dem Intendanten vorgeworfen. Ob darunter strafrechtlich relevante Vorgänge sind, ist noch nicht klar. Das meiste dürfte sich in einer rechtlichen Grauzone bewegen. Die Frauen haben ihre Beschwerden bereits im November 2020 bei Themis eingereicht, der als Reaktion auf die "Me Too"-Debatte 2018 gegründeten Vertrauensstelle gegen sexuelle Belästigung und Gewalt im Film- und Theaterbereich.
Der Brief der Frauen habe die Kulturverwaltung am 18. Januar erreicht, das sei auch das erste Mal gewesen, dass er von konkreten Vorwürfen gegen Dörr gehört habe, sagte Lederer am Montag im Ausschuss. Zuvor hätte er lediglich "Gerüchte" gehört, was natürlich keine Grundlage für weitere Schritte gewesen sei: "Wir spekulieren nicht." Am 21. Januar führten Lederer und Staatssekretär Torsten Wöhlert dann ein Gespräch mit den Frauen, Klaus Dörr wurde Anfang März angehört. "Die Anhörung wird noch ausgewertet, weitere Gespräche folgen. Der Vorgang ist nicht abgeschlossen", heißt es von Seiten des Senats. Verstöße gegen das Gleichbehandlungsgesetz seien inakzeptabel. Das beteuerte Lederer am Montag explizit noch mal im Kulturausschuss: "Wir werden uns für ein angstfreies und diskriminierungsfreies Arbeitsklima einsetzen." Diejenigen, die Machtmissbrauch welcher Art auch immer erlebten, sollten sich dringend an Beratungsstellen wenden. Dörrs Rücktritt sei für ihn die Voraussetzung für die vertrauensvolle und glaubhafte Aufarbeitung der einzelnen Vorwürfe.
Dörr war am Montag auf Anfrage der SZ nicht zu sprechen. Am Wochenende hatte er sich gegen die "halt- und substanzlosen Anschuldigungen" verwehrt und einen Anwalt eingeschaltet. In der Erklärung zu seinem überraschenden Rücktritt heißt es nun: "Ich bedaure, dass mir nicht gelungen ist, ein offenes und diskriminierungssensibles Klima zu schaffen, das Probleme rechtzeitig erkennt und es Mitarbeiter:innen ermöglicht, sich vertraulich mit ihren Fragen, Beschwerden und ihrer Kritik an die notwendigen und vorhandenen Stellen in der Volksbühne zu wenden." Das klingt nach plötzlich sehr viel Einsicht, wenn nicht nach einem Eingeständnis.
Künstlerisch bedeutet der Rücktritt für das Haus kein großes Desaster
Klaus Dörr, geboren 1961 in der Pfalz, wurde von Lederer 2018 installiert, um die von Dercon an die Wand gefahrene Volksbühne wirtschaftlich und künstlerisch wieder aufzustellen. Er war dafür genau der richtige, ein nüchterner Pragmatiker und Mann der Zahlen, studierter Wirtschaftswissenschaftler. Dörr ist nicht selber künstlerisch tätig, aber ein guter Verhandler und Geschäftsführer. Als solcher hatte er als rechte Hand von Armin Petras von 2006 bis 2013 am Maxim Gorki Theater gearbeitet und war von 2013 bis 2018 dessen künstlerischer Direktor und stellvertretender Intendant am Schauspiel Stuttgart.
An der Volksbühne gelang es Dörr - gemeinsam mit der geschäftsführenden Direktorin Nicole Lohrisch -, ein passables Programm und wieder ein Ensemble auf die Beine zu stellen, die Auslastung zu steigern und mit dem vorhandenen Geld vernünftig zu wirtschaften. Auf dem Programm stehen seitdem auch dezidiert feministische Autorinnen und Stücke. Stefanie Sargnagel schrieb für das Haus, die Regisseurin Pınar Karabulut inszeniert dort, Susanne Kennedy, Lucia Bihler, Claudia Bauer. Klaus Dörr, heißt es, sei auch ein Förderer von Frauen. Zumindest vordergründig, wie der taz-Artikel insinuiert, in dem auch über "Femwashing" spekuliert wird, das vorgebliche Interesse an feministischen Themen aus Marketing-Gründen. Weil es eben angesagt ist.
So verheerend das Ganze für das Image der Volksbühne seit dem Ende der Ära Castorf auch ist - ein großes Desaster für den künstlerischen Betrieb bedeutet dieser Rücktritt nicht. Es ist Lockdown, das Theater ist geschlossen, und Dörrs Interimsintendanz hätte ohnehin nur noch wenige Monate gedauert. Im Sommer übernimmt René Pollesch die Leitung des Hauses, will mit einem Team aus den unterschiedlichsten Künstlern und Komplizinnen dann Kunst frei von Hierarchien ermöglichen. Wer bis dahin die künstlerischen Entscheidungen an der Volksbühne fällt, oder ob der Interimsintendant einen Interimsnachfolger bekommt, ist noch nicht klar.
Der Vorfall wirft erneut ein Schlaglicht auf den von männlichem Dominanzgebaren und patriarchalisch-hierarchischen Machtstrukturen geprägten Theaterbetrieb, in dem Abhängigkeitsverhältnisse immer wieder ausgenutzt werden. Neue Strukturen sind im Theater, dieser letzten feudalistischen Bastion, bitter nötig.
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