Ballettfestwoche:Tanz den Putin

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Natürlich keine zufällige Farbwahl: Die Flagge der Ukraine bei "Bilder einer Ausstellung". (Foto: W. Hoesl)

Zur Eröffnung der Münchner Ballettfestwoche choreografieren David Dawson, Alexei Ratmansky und Marco Goecke - Kunst und Politik ringen miteinander um Sichtbarkeit.

Von Sabine Leucht

Im digital anmutenden Bühnenbild von Eno Henze werfen klare Linien weiche Schatten. Und während der 30 Minuten, die David Dawsons "Affairs of the Heart" dauern, nisten sich dazwischen größere Farbflächen ein. Alexei Ratmanskys "Bilder einer Ausstellung" wird vor Kandinskys munter-bunten "Quadraten mit konzentrischen Ringen" getanzt. Und im von Marco Goecke gestalteten Finale stiebt graues Konfetti im raumfüllenden Schwarz. Damit ist schon viel über die drei so unterschiedlichen wie in sich konsequenten Tanzstücke gesagt, die am Samstag unter dem Titel "Passagen" die Münchner Ballettfestwoche eröffneten. Ein Triple-Bill der klaren Handschriften und Gefühlslagen ist da gelungen, der das Publikum des Bayerischen Staatsballetts da abholt, wo es unter Igor Zelensky die meiste Seherfahrung sammeln konnte.

Die Trikots betonen jeden Muskel: "Affairs of the Heart". (Foto: Serghei Gherciu/Serghei Gherciu)

Der Brite Dawson, der wie Ratmansky zu den begehrtesten Choreografen des internationalen Ballettzirkus zählt, steht mit mindestens eineinhalb Beinen (und den dazugehörigen Spitzenschuhen) im (neo)klassischen Formenkanon. In seiner ersten Kreation in München schwelgen seine Tänzerinnen und Tänzer in der Musik, die hier den warmen, mitunter auch schwärmerischen Ton angibt. Hohe Arme, gen Bühnenhimmel gerichtete Gesichter und eine Liebe zu unermüdlich variierten Hebefiguren charakterisieren die Uraufführung, die nach Marjan Mozetichs Violinkonzert "Affairs of the Heart" benannt ist.

Das ist was fürs Herz und fürs Auge, wenn Dawson seine Schaumkronengeschöpfe auf den Klängen surfen und immer leidenschaftlicher aufeinander zutreiben lässt. Doch während die Trikots jeden Muskel betonen, bleibt der Blick auf die Individuen von der Virtuosität verschleiert. Und angesichts eines Krieges direkt vor der Haustür und eines Ballettdirektors Igor Zelensky, der sich noch immer nicht zu seinem Verhältnis zu Putin äußern mag, wirkt das Stück irritierend unpolitisch. Oder gruppieren sich da am Ende alle in einer Reihe zu Buchstaben? Liest man da wirklich ein "nonono ..."?

Der Chef blieb hinter dem Vorhang - buchstäblich wie im übertragenen Sinne

Man hatte sich ja im Vorfeld gefragt, ob sich Zelensky bei den Festwochen zeigen würde, dessen Schweigen in dem immer dichter werdenden Bekenntnisgewirr inzwischen ziemlich dröhnt. Doch der Chef blieb hinter dem Vorhang - buchstäblich wie im übertragenen Sinne -, während sein Gast Alexei Ratmansky Flagge zeigte. Wenig überraschend, schließlich gehört dem russischen Choreografen mit Familie und beruflicher Vergangenheit in der Ukraine eine der engagiertesten Stimmen gegen diesen Krieg. Also entrollt er zum Schlussapplaus das blau-gelbe Banner und spannt es wie ein Segel hinter seinen Schultern. Schwer zu sagen, wofür Ratmansky am Ende mehr bejubelt wurde: Für diese in Zeiten der großen symbolischen Ersatzhandlungen fast ein wenig wohlfeile Geste oder für sein fast ausgelassenes Bewegungsdesign nach Modest Mussorgskis "Bilder einer Ausstellung".

Ausgelassenes Bewegungsdesign: "Bilder einer Ausstellung". (Foto: W. Hoesl/W. Hoesl)

Dabei zündet die Choreografie, die Ratmansky 2014 für das New York City Ballett erfand, auch in München. Zwischen Dmitry Mayborodas zartem Klavierspiel, das jede Erinnerung an trockenen Musikunterrichtsstunden vertreibt, und Wendall K. Harringtons videoanimierten Bildauskopplungen aus Kandinskys Farbstudien vermittelt eine bunte Gauklertruppe, die sich vor dem klassischen Vokabular verbeugt, sich seiner aber frei bedient. Bewegungen werden unterbrochen, fallen abrupt in sich zusammen oder werden neu und listig miteinander kombiniert. Mal tremoliert in einem Pas de deux ein Fuß humorig nach, mal wachsen sich Armposen zu rotierenden Windmühlenflügeln aus. Bisweilen scheinen die fünf Paare direkt aus den Bildern zu kommen, dann wieder ist es, als tanzten die Füße und Hände selbst auf den Tasten. Und in den Soli - allen voran im Tanz der Hexe Baba Jaga, den der New Yorker Ballerino Amar Ramasar als Gast bestreitet - werden die Rollenklischees von innen heraus unterlaufen und spielerisch abgeschüttelt.

Nur folgerichtig, dass Marco Goeckes "Sweet Bones' Melodie" das Triple beschließt. Dirigent Tom Seligman, der Unsuk Chins abstrakte Komposition "Mannequin" ein "Ungeheuer" nennt, gelingt es im Orchestergraben, dieses Ungeheuer zu zähmen, ohne es in Ketten zu legen. Die zwölf Tänzer auf Marco Goeckes nebliger Bühne aber werden ihre unsichtbaren Ketten nicht los. Wenn ihnen im Versuch, sich zu umarmen, die Gliedmaßen steif und die Hände zu Krallen werden, liest sich das wie ein finsteres Echo auf die sehnsuchtsvoll erhobenen Arme bei Dawson. Die unter ihnen aufstiebende Konfetti-Asche könnte von Ratmanskys Fest der Farben übrig geblieben sein.

Eine Friedentaube? Marco Goeckes "Sweet Bones' Melodie" (Foto: CARLOS QUEZADA)

Dieses dunkel-melancholische Finale ist typisch Goecke, dessen krampfende, zerhackte Körpersprache schon ikonografisch ist. Doch diese gewaltige Unwucht in dem Gemeinschaftsgefüge, das so ein Körper ist, passt auch grausam gut in diese Zeit. Da muss der amtierende Choreograf des Jahres keinerlei Zusatz-Zaunpfähle schwenken. Da bringt bereits ein einziger nackter männlicher Oberkörper in einer Gruppenszene die Assoziationsmaschinerie in Schwung. Die geflüsterten Zeilen des Gedichts "Weltende", in dem Else Lasker-Schüler 1905 dem "Weinen in der Welt" auf den Grund ging - und die Taube, die der junge António Casalinho nicht loszulassen wagt. Kein Stück über den Krieg, aber verdammt nah dran.

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