Theater:Der stumme Schrei

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Kathrin Wehlisch gibt als Kriegsheimkehrer Beckmann in Wolfgang Borcherts "Draußen vor der Tür" der Aufführung Würde, Kraft und Wahrheit. (Foto: Matthias Horn/Berliner Ensemble)

René Pollesch, Fabian Hinrichs und Michael Thalheimer inszenieren in Berlin zwei sehr unterschiedliche Kriegsstücke und zeigen, warum Theater manchmal doch das perfekte Medium ist.

Von Peter Laudenbach

Am Ende steht ein verzweifelter Mensch auf der leeren Bühne und verzerrt das Gesicht zu einer Schmerzgrimasse. Dieser stumme Schrei sieht aus, als würde er nie mehr aufhören. Davor hat dieser Mensch, ein Kriegsheimkehrer namens Beckmann, versucht, sich nach all dem Morden von seiner Schuld zu befreien. Er wollte irgendwie wieder ankommen in einem guten Leben, oder wenigstens in einem erträglichen. Aber dieses Leben gibt es nicht mehr. Michael Thalheimer hat am Berliner Ensemble das berühmteste Antikriegsstück des deutschen Nachkriegstheaters inszeniert, Wolfgang Borcherts "Draußen vor der Tür".

Als Thalheimer irgendwann im vergangenen Jahr seine Inszenierungen für diese Spielzeit geplant hat, ahnten im Westen höchstens ein paar misstrauische Militärs, dass der Krieg zurück nach Mitteleuropa kommen könnte. Jetzt ist Borcherts vor 75 Jahren, zwei Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs uraufgeführtes Stück schrecklich gegenwärtig. Bei der Premiere wird am Ausgang für die Ukraine gesammelt. Ein paar Hundert Meter vom Berliner Ensemble entfernt liegen Blumen und handgeschriebene Friedensgebete vor der Botschaft der Ukraine.

René Polleschs "Geht es dir gut?" ist ein Klagegesang für eine männliche Diva, ein Solo mit und von und für Fabian Hinrichs. (Foto: Thomas Aurin/Volksbühne Berlin)

Einige Straßen weiter, an der Berliner Volksbühne, hat René Pollesch zusammen mit Fabian Hinrichs ein neues Stück geschrieben und inszeniert. Der Volksbühnen-Intendant erklärt in Interviews gerne, wie wenig er von einem Theater hält, das den Aktualitäten der "Tagesschau" hinterherinszeniert. Aber der Mehrfach-Krise aus Klimawandel, Pandemie und Krieg kann selbst Polleschs Theater nicht entgehen. In diesem neuen Stück fassen er und Hinrichs die Lage in einer Aufzählung der Trostlosigkeiten lakonisch zusammen: "1,5 Meter. 1,5 Grad. 1,5 Atomkoffer. 2 x 1,5 Atomkoffer." Damit erledigt sich die Frage des Stücktitels eigentlich von selbst: "Geht es dir gut?" Wie soll es einem derzeit schon gehen.

Ab und zu gelingt es dem Theater, festzuhalten, was gerade geschieht und wie sich viele Menschen fühlen

Die beiden Berliner Inszenierungen könnten in ihrer Ästhetik und der Weltsicht ihrer Regisseure nicht unterschiedlicher sein. Im Thalheimers Tragödien-Theater herrschen archaische Gewaltverhältnisse. Den Versprechen von Zivilisation, Frieden und Aufklärung traut es nur sehr bedingt. Dagegen kann für Pollesch und Hinrichs das Theater gar nicht aufgeklärt, lustig und modern genug sein. Was die Premieren der beiden Regie-Antipoden verbindet, ist die ungeschützte Ehrlichkeit, mit der sie die Ratlosigkeit, Trauer und Verzweiflung angesichts des Krieges zeigen. Es ist vielleicht kein Zufall, dass an beiden Abenden die Protagonisten oft sehr alleine und verloren, früher hätte man gesagt: gottverloren, auf den riesigen, leeren Bühnen stehen. Nicht nur, weil das Theater hier wohltuend auf Publikums-Belehrung verzichtet, ist man für diese Geste der Hilflosigkeit beim Zusehen sehr dankbar. Ab und zu gelingt es dem Theater, besser als es irgendwelche Erklärungen könnten, festzuhalten, was gerade geschieht und wie sich viele Menschen fühlen.

"Geht es dir gut?" ist ein Klagegesang für eine männliche Diva, ein Solo mit und von und für Fabian Hinrichs. Diesem erstaunlichen Schauspieler gelingt das Kunststück, sich ohne Handbremse in das Leiden an sich selbst und der Welt zu stürzen, und gleichzeitig bestens gelaunt zu strahlen. Das grundiert er spöttisch mit "Ich-spiele-Euch-was-vor"-Ironie und sorgt so für den nötigen Hygieneabstand, um das Planschen im Gefühlsbad der Befindlichkeiten zu vermeiden. Grund zum Klagen gibt es angesichts der Weltkrisen genug, da hilft im Zweifel nur Galgenhumor: "Was soll denn jetzt noch kommen, eine Alien-Invasion oder Gott persönlich?" Begleitet und gerahmt wird das Lamento dieses einsamen Mannes auf der leer geräumten Bühne von zwei Chören, einem afrikanischen und einem bulgarischen, zwischendurch sorgen die Breakdance-Virtuosen der Flying Steps für den nötigen Schwung. Das ist absolut herzerwärmend, es gibt nichts Schöneres, als wenn lauter ziemlich unterschiedliche Menschen zusammenkommen. Die Rede von der Menschheit ist manchmal keine Phrase, sondern ein Augenblick der Wahrheit auf einer Theaterbühne. Das gilt selbst, wenn die beiden großartigen Chöre ihre Gesangskünste erst als Zugabe in voller Pracht darbieten können und ansonsten eher Staffage der Gruppenarrangements sind.

Putin, für die Volksbühne ein klarer Fall von "botoxischer Männlichkeit

Pollesch und Hinrichs halten an diesem Abend sehr gekonnt die Balance zwischen Ironie und Schmerz. Sie zeigen, was das Elend der Welt in einer vergleichsweise komfortablen Region anrichtet, zum Beispiel im Gefühlsleben von ihnen und ihren Zuschauern. Ihr Text bleibt persönlich, ohne dabei in die Narzissmus-Fallen zu gehen, das Theater anmaßend zur Welterklärer-Instanz aufzupumpen oder den realen Schrecken parasitär zur Theater-Emotions-Ausbeutung zu nutzen. Die beiden bleiben dabei bei Polleschs Mitteln und Themen und sprechen in raffinierten Brechungen vor allem von sich und ihresgleichen, den eigenen Fragezeichen, Verstörtheiten und Sehnsuchtsseufzern. Deshalb leidet das Romantiker-Ich, das auf der Bühne seine Klage ausbreitet, auch nicht nur an den drei Weltkrisen, sondern mindestens so sehr an seiner sehr privaten Not: Es ist verlassen worden von einer oder einem Geliebten und hofft jetzt, dass der geliebte Mensch doch bitte zurückkommt. Das geht ja alles weiter! Das Privatleben und die Liebe und ihr Ende und die Sehnsucht, wenn man im Lockdown alleine in der Wohnung sitzt und auf den Fernseher starrt: "Wir werden Gespenster sein. 30 000 Stunden Netflix! 30 000 Stunden Nachrichten! Und dann auch noch das, on top."

Was "on top" zu all dem Elend noch dazu kommt, ist der Krieg, der selbst dem manisch um sich und die Liebe kreisenden Bühnen-Ich in den Monolog fällt, "ein Krieg, der mir sagt, ich kann hier nicht nur über uns beide sprechen." Was er dann natürlich trotzdem macht. Zur Erinnerung an den Realschrecken blitzt auf dem Rundhorizont (Bühne: Katrin Brack) ab und zu das maskenhafte Bulldoggen-Gesicht Putins auf, hier ein klarer Fall von "botoxischer Männlichkeit." Eine fiktive Rettung deutet eine Rakete in silbern glänzender Dildo-Form an, in der die Chöre verschwinden, um sich auf einem anderen Planeten nach einem besseren Leben umzusehen: Last Exit Eskapismus. Nur Fabian Hinrichs bleibt zurück und trauert der Liebe nach.

Auch Borcherts Kriegsheimkehrer Beckmann sucht bei Thalheimer am Berliner Ensemble die Rettung in der Liebe, in diesem Fall bei einer blonden Loreley (Philine Schmölzer). Das ist erstens natürlich vergebens und zweitens eine eher pubertäre Rettungsphantasie vom Krieger, dem nach verlorener Schlacht eine Frau das verwundete Herz tröstet. Nicht nur das wirkt in Borcherts ungefiltert jugendlichem Weltschmerz und spätexpressionistischem Oh-Mensch-Pathos heute etwas befremdlich. Klugerweise verzichtet Thalheimer auf Tränendrüsen-Effekte und Zeitkolorit, seien es dekorative Hakenkreuze, seien es Verweise auf den gegenwärtigen Krieg. Stattdessen errichtet er unter einem Himmel bunter Lichter (Bühne: Olaf Altmann) ein Vaudeville aus der Hölle. Kathrin Wehlisch gibt als Kriegsheimkehrer Beckmann der Aufführung Würde, Kraft und Wahrheit, wenn sie als einziger Mensch unter lauter Geisterbahn-Zombies durch diesen Albtraum irrt. Und am Ende darauf in der einzig möglichen Weise antwortet: mit einem stummen Schrei.

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