Insgeheim erhoffte man sich einen großen Spaß davon, solch ein historisches Musiktheater zu sehen, in dem die Hauptfigur allen Ernstes ein Vampir ist, der als blutrünstiger Verführer drei Stunden lang sein Unwesen treibt - "zeigt eine sich gewogen, so wird sie ausgesogen" -, bevor er dann doch noch gemeuchelt werden kann. Das klingt nach herrlichem Schmierentheater, und so konnte man es auch bislang erleben, sofern der "Der Vampyr" des ansonsten bestenfalls noch durch seine Oper "Hans Heiling" bekannten romantischen Komponisten Heinrich Marschner überhaupt noch aufgeführt wurde. Marschner war ab 1831 königlicher Kapellmeister in Hannover. Dort fand nun eine wundersame Wiederbegegnung mit dem Werk statt. Die Erwartung auf unfreiwillige Bühnenkomik en gros wurde enttäuscht, das Bedürfnis nach großer Unterhaltung keineswegs.
Denn der auf neue Theaterformen spezialisierte Regisseur Ersan Mondtag, 1987 als Ersan Aygün in Berlin geboren, hat in Zusammenarbeit mit dem Autor und Theaterkritiker Till Briegleb (er schreibt auch für die Süddeutsche Zeitung) eine zweite Erzähl- und Spielebene eingezogen, die einerseits das Spukdrama in Brecht'scher Manier reflektierend aufbricht, dadurch andererseits die historische theatrale und musikalische Dramaturgie des Stücks einigermaßen am Leben lassen kann.
Es geht darum, diese Oper ans Jetzt zu binden und dessen politische Dimension offenzulegen
Zentrale Figur ist dabei der von Mondtag ergänzte Lord Byron, hochromantischer Schriftsteller und Zeitgenosse Marschners, virtuos plappernd verkörpert von dem belgischen Schauspieler Benny Claessens, der den literarischen Lord als pansexuellen Genussmenschen bietet, dessen fröhliche Lebensgier allerdings auch die intellektuelle Seite betrifft. Nur gegen Ende funktionierte das zunehmend schlechter, da Claessens seine hochpathetischen und inhaltlich überfrachteten Texte in ausgesuchter Formulierungskunst locker lustig vortragen wollte. Mit der historischen Figur des Dichters Byron hatte Claessens Projektion nicht viel gemein, aber um historische Vorbilder ging es ja auch gar nicht, vielmehr darum, diese Oper ans Jetzt zu binden und dessen in konventionellen Inszenierungen verdeckte politische Dimension offenzulegen.
Kein künstlerischer Mensch, kein denkender Mensch kann diesen Aspekt ernsthaft leugnen. Alexander Kluge hat in seinem aktuellen Interview mit der Kunstzeitschrift Monopol die Aufgabe der Kunst, gerade in Zeiten des Krieges, sehr genau in ihrer aufklärerischen friedensstiftenden Funktion beschrieben. Wenn man das ernst nimmt und sich als Regisseur, aber auch als Dirigent, darum bemüht, den Zuschauer zu einer neuen Blickrichtung auf scheinbar unlösbare Situationen und Problematiken zu verführen, seinen Blick zu weiten, dann wird auf einmal selbst der verstaubteste Opernstoff mit der abgestandensten Musik geistig anregend, und dies in einer höchst unterhaltsamen Atmosphäre.
Natürlich muss der blutsaugende Mörder der Böse bleiben, sonst funktioniert auch die aktualisierte Regie-Neufassung nicht
Die Musik Marschners fügt sich quasi nahtlos in die frühromantische Tradition, changiert zwischen Ludwig van Beethovens dramatischer Strenge und motivisch-thematischer Profilierung, der ganzen Bandbreite orchestraler Erregung sowie dem lyrischen Natursound Carl Maria von Webers mit Waldhornklängen und Holzbläsern, wie sie aus dessen Oper "Der Freischütz" geläufig sind. Und ein bisschen ist die Figur der unschuldigen Malwina auch musikalisch an Webers Agathe angelehnt. Dirigent Stephan Zilias versucht das Niedersächsische Staatsorchester Hannover auf diesen Liedklang einzuschwören. Eines ist unüberhörbar: Das Bestreben des Komponisten Marschner, bei der Etablierung einer genuin deutschen Oper prominent mitzuwirken.
Obwohl er in dieser Oper traditionell Nummer um Nummer abspult, sind es doch nie Arien im Sinne der italienischen Oper, sondern immer liedhafte Stücke, die trotz ihrer Ausdehnung einen völlig anderen Charakter ins Spiel bringen, als man ihn aus Mailand oder Paris kannte. Aber die Musik steht bei dieser Produktion nicht an erster Stelle, auch wenn Chöre und einzelne Solisten glänzen und der Orchesterklang immer wieder auf Gebiete traumwandlerischer Romantik führen. Vielmehr geht es diesmal um ein grundsätzlich anderes Darstellungskonzept traditioneller Oper.
Mondtag hat sich dabei nicht zu einer aktuellen Umarbeitung mit Bezug auf den Ukraine-Krieg hinreißen lassen, sondern sich auf die seit den 1970er-Jahren beliebte Form der psychologischen Märchendeutung konzentriert, die ja immer auch Welterklärung sein will. Der Vampyr ist also nicht mehr nur mordender Einzelgänger und fabelhaftes Gruselmonster, jedenfalls Täter, sondern er steht nun für die Gemeinschaft aller Verfolgten als heimliches Opfer da. Das ist eine gewagte Spiegelung des Plots, klingt im Interview aus dem Mund des Regisseurs aber weitreichender, als es dann auf der Bühne eingelöst werden kann. Denn natürlich muss der blutsaugende Mörder der Böse bleiben, sonst funktioniert auch die aktualisierte dramatisch gebrochene Regie-Neufassung nicht.
Oper, egal wie aktuell und politisch, lebt doch nach wie vor von den Stimmen
Als Symbol für die Geächteten hat Mondtag die Fassade einer zerstörten Synagoge auf die Bühne gestellt, später ist es dann der Firmensitz eines Ölmagnaten, der für einen "Ölvampirismus" steht, "das Bild des Blutsaugers also für die Ausbeutung der Ressourcen der Erde durch gierige Machtmenschen". Das mag arg simplifiziert erscheinen, funktioniert als Musiktheater aber prächtig. Zumal der Magnat Laird Davenaut von dem georgischen Bass Shavleg Armasi mit der volltönendsten Stimme des Abends verkörpert wird. Daneben kann höchstens noch Michael Kupfer-Radecky als Vampyr Lord Ruthwen bestehen.
Besonders enttäuschend: Mercedes Arcuri als Malwina, um die sich am Ende alles dreht. Sie soll an den bösen Ruthwen verheiratet werden, wo sie doch Edgar Aubry liebt, der aber stimmlich ebenso schwächelt. Dass sich dann beide nach der Entlarvung von Ruthwen als Vampyr doch noch in die Arme fallen, ist zumindest musikalisch kein Happy End. Auch die Figur des Ahasver bleibt ziemlich blass. Was weniger an dem bleichen Negligé liegt, das ihn umhüllt, als an der spröden Sprechrolle. Man versteht, trotz akustischer Verstärkung, oft kaum ein Wort. Das ist schade, denn er hätte einen etwas ernsteren Gegenpol zu der Figur des Lord Byron sein können, beide hätten sich inhaltlich und in ihrer Theaterwirkung gegenseitig verstärken können.
Hat man zu viel gewollt in Hannover? Vielleicht. Oper, egal wie aktuell und politisch, lebt doch nach wie von den Stimmen. Nicht unbedingt von lautstark geschmetterten Arien, aber sicherlich nicht von Brecht'schem Verfremdungsgesang. So politisch-didaktisch kann Oper nun auch wieder nicht sein.