Ballett:Auf großem Parkett

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Längste Regentschaft der Ballettgeschichte: John Neumeier hört 2023 nach 50 Jahren als Hamburgs Ballettchef auf. (Foto: Kiran West)

Hamburgs Ballettchef John Neumeier will 2023 als Intendant nach 50 Jahren an der Spitze aufhören. Wer wird ihm nachfolgen?

Von Dorion Weickmann

Es ist nicht weniger als eine Sensation, was Hamburgs Ballettchef John Neumeier anlässlich der Generalüberholung seines "Dornröschens" verkündete: Nach fünfzig Jahren an der Spitze der Kompanie will sich der Intendant 2023 verabschieden. Damit endet die längste Regentschaft der Ballettgeschichte - und ein strahlendes Erfolgskapitel. Denn der Amerikaner, dessen Karriere als Tänzer in Stuttgart begann, hat die kühlen Hanseaten zu einer tanzverrückten und -verzückten Anhängerschar gemacht. Der Großteil des weit über die Hundertermarke hinausgewachsenen Neumeier-Repertoires wurde in der Dammtor-Oper uraufgeführt. Zwar hat der Zweiundachtzigjährige auch andernorts Meisterwerke erarbeitet, darunter die unvergleichliche "Kameliendame" oder den "Nussknacker". Aber die Liaison zwischen ihm und dem Hamburg Ballett blieb ungetrübt: Tänzer und Intendant sind aufeinander eingeschworen, der Nachwuchs kommt aus der eigenen Schule. Und wenn der Platz im Parkett, erste Reihe rechts außen, ausnahmsweise unbesetzt bleibt, ist der Chef dienstlich unterwegs. Oder krank.

Neumeiers Aufmerksamkeit ist offenbar Balsam für die Seele seiner Tänzer. So glänzt auch das runderneuerte, zum Jahresende 2021 herausgebrachte "Dornröschen" sogar in einer ausverkauften Abonnementsvorstellung: bis in die Nebenrollen hinein hingebungsvoll getanzt, von Jürgen Rose opulent dekoriert. Abgesehen von wenigen Fehlfarben wie dem dornigen Erdwurm, der die böse Fee ersetzt und sich später in einen maliziösen Araberprinzen verwandelt, ist dieses "Dornröschen" psychologisch überzeugend koloriert. Was aber wird aus dem Neumeier-Fundus, wenn der Maestro 2023 abtritt?

Glänzt: das runderneuerte "Dornröschen" in Hamburg. (Foto: Kiran West)

Mit dieser Frage muss sich nun Hamburgs Kultursenator Carsten Brosda auseinandersetzen, der zugleich Präsident des Deutschen Bühnenvereins ist. Brosda hat die auf lange Sicht wichtigste Personalie der deutschen Tanzszene zu lösen: Denn seine Entscheidung wird wiederum Neumeiers Entscheidung beeinflussen, welche Rolle Hamburg bei der Ausgestaltung seines künftigen Erbes spielen soll. Mit Blick auf die Öffentlichkeit, auf Kunst und Publikum eine zweischneidige Aufgabe: Die Hamburger Kompanie darf kein Neumeier-Museum werden, aber ihre DNA muss mit seinem Schaffen verbunden bleiben. Das Beispiel des Stuttgarter Balletts ist die beste Blaupause: Seit 1973, seit dem plötzlichen Tod des Gründers John Cranko wurden dessen Schöpfungen nicht nur bewahrt, sondern international verbreitet. Es war vor allem Crankos Ballerina Marcia Haydée, der die Weichenstellung Richtung Zukunft und die dynamische Weiterentwicklung der Truppe glückte. In Hamburg könnte Neumeiers langjährige Muse Gigi Hyatt, derzeit Leiterin seiner Ballettakademie, Vergleichbares zustande bringen - beispielsweise als Kuratorin des Neumeier-Œuvres im Rahmen einer Doppelspitze.

Denn zweierlei ist in Hamburg anders als in Stuttgart: Zum einen fehlt profilierter Choreografen-Nachwuchs, zum anderen hat Neumeier die Kompanie so gut wie nie aus der Hand gegeben. Diese exklusive Prägung wird mit seiner Demission hinfällig. Danach müssen in Hamburg neue choreografische Handschriften zu sehen sein und Kreationen entstehen, damit die Ballettkultur nicht an sich selbst erstickt. Nach Lage der Dinge kann nur ein zweiter Führungskopf für diese Frischluftzufuhr sorgen - sei es eine Netzwerkerin wie Bettina Wagner-Bergelt, Ex-Vizedirektorin des Bayerischen Staatsballetts und derzeit federführend beim Tanztheater Wuppertal, sei es ein Allrounder wie der Choreograf Christopher Wheeldon. Vielleicht kein Zufall, dass der Brite seine Shakespeare-Adaption "The Winter's Tale" demnächst beim Hamburg Ballett einstudiert. Wheeldons Ästhetik liegt auf Neumeiers Linie, aber ob er seine Wahlheimat New York gegen Hamburg eintauschen würde?

Noch vor den Personalfragen sollte Carsten Brosda allerdings Verbleib und Finanzierung der sagenhaften Kunst-Kollektion klären, die Hamburgs Ehrenbürger John Neumeier in jahrzehntelanger Sammlertätigkeit zusammengetragen hat: Bücher, Bilder, Briefe und Skulpturen, allesamt kulturgeschichtliche Zeugnisse von Rang. Ein Schatz, den sich die Hansestadt sichern sollte - im eigenen Interesse.

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