Tanzdokumentation "In Bewegung bleiben":Bleiben oder gehen?

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Szene aus dem Dokumentarfilm "In Bewegung bleiben": Proben mit dem Choreografen Raymond Hilbert. (Foto: Salar Ghazi)

Der Filmemacher Salar Ghazi porträtiert bewegende Tänzerschicksale aus der Endphase der DDR.

Von Dorion Weickmann

Sie wird kein Bein mehr auf den Boden kriegen. Das ist der Ostberliner Choreografin Birgit Scherzer klar, als sie einen staatstragenden Auftrag ablehnt. Die Fünfunddreißigjährige soll aus Mikis Theodorakis' Oratorium "Canto General", komponiert zu einem Gedichtzyklus von Pablo Neruda, ein sozialistisches Tanzstück machen. Die Uraufführung ist angesetzt für das FDJ-Pfingsttreffen 1989 im Palast der Republik. Doch die gefeierte Nachwuchskünstlerin verweigert sich, will das vorgefertigte Libretto nicht inszenieren. Scherzer sieht sich in einem Dilemma gefangen, sowohl künstlerisch als auch moralisch. Was tun - gehen oder bleiben?

Diese Frage haben sich zahlreiche Tänzer und Tänzerinnen in den letzten Jahren der DDR gestellt, genauso wie Kollegen aus anderen Kunstdisziplinen. Zehn Protagonisten, die fast ausnahmslos Tom Schillings legendärem Tanztheater an der Komischen Oper angehörten, porträtiert der einfühlsame Dokumentarfilm "In Bewegung bleiben". Der Regisseur Salar Ghazi hat das zweistündige Kollektivpsychogramm komplett selbst produziert, ohne Filmförderung oder Sponsoring: Vielleicht haben Finanziers die Illustration einer entrückten Tanzwelt befürchtet. Doch das Ergebnis des Projekts, derzeit auf dem Streamingportal www.sooner.de zu sehen, sprengt die Insiderperspektive. Um Training, Ballettsaal und Bühne geht es Ghazi nur am Rand. Auch über die Tanzästhetik in der DDR von NVA-Ensemble bis Folklorefestival erfährt man eher zu wenig als zu viel. Aber der konzentrierte Schwarzweiß-Blick in die Gesichter erlaubt ebenso wie die lebhaften Erzählungen der Gesprächspartner ein intensives Eintauchen in Schicksalsfragen, von denen der Westen sich kaum eine Vorstellung machte.

Birgit Scherzer zum Beispiel hat 1989 einen neunjährigen Sohn, lebt mit dem Tänzer Klaus Dünnbier zusammen und sieht sich dennoch gezwungen, der DDR den Rücken zu kehren - natürlich in einer klandestinen Aktion. Sie täuscht einen Verwandtschaftsbesuch vor, heiratet ihren Lebensgefährten im Hauruck-Verfahren, um später einen Antrag auf Familienzusammenführung stellen zu können, und setzt sich in den Zug gen Westen.

Was folgt, ist absehbar und doch der reine Horror. Als die Mutter nicht wie üblich nach ein, zwei Wochen heimkehrt, reagiert das Kind beunruhigt. Der Mann muss glaubhaft Nichtwissen vorgaukeln, etwa gegenüber dem stellvertretenden Intendanten, einem Stasi-Zuträger, wie jeder weiß. Aber weil Scherzer schon eine gewisse Prominenz genießt, lässt der Staatsapparat nicht locker: Dünnbier soll seine Frau aus dem Westen zurückholen, andernfalls wird der Sohn zur Adoption freigegeben. Und zwar an wildfremde Leute. Der unmenschliche, würde- und schamlose Umgang der DDR mit den eigenen Bürgern ruft selbst Jahrzehnte später Beklemmung hervor. Glücklicherweise durchkreuzt der Mauerfall den Erpressungsversuch und hebelt die Rückführungsmission aus.

Der Aderlass war enorm - mit der DDR verschwand mehr oder weniger auch ihre Tanzkultur

Der Aderlass, den die Tanzszene der verdämmernden DDR erlitt, zeichnete sich schon lange vorher ab. Herausragende Kompanien zählten als Kulturbotschafter zu den Reisekadern, tourten regelmäßig in den Westen und kamen häufig dezimiert von dort zurück. Die Abgänge wurden, wie Ghazis Zeitzeugen berichten, von den Theatern beschwiegen - intern und extern. Die Angst, dass am nächsten Kantinentisch ein Spitzel die Ohren aufsperrte, war riesig und durchaus berechtigt. Wie überall sonst im Land war Erich Mielkes Behörde auch in der Komischen Oper gut vernetzt. Nicht alle Künstler ließen sich davon einschüchtern. Zumal die Republikflucht von 1987 an wohl in vielen Köpfen zur konkreten Idee reifte. Damals veranstaltete der Osten zum 750-jährigen Berlin-Jubiläum ein regelrechtes Schaulaufen des Westens, mit Gästen vom Wuppertaler Tanztheater oder von John Neumeiers Hamburg Ballett. Wer dann wirklich rübermachte, landete allerdings häufig hart: kurzzeitige Engagements, wenig Verlässlichkeit.

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Erstaunlich, wie viele der Interviewten dennoch in irgendeiner Form dem Theater verbunden blieben. Der eine führt Regie, der andere unterrichtet, der nächste hat zwar auf Informatik umgesattelt, vermisst die Bühne aber immer noch. Birgit Scherzers Schwester Steffi, einst Primaballerina der Staatsoper, leitet heute die Zürcher Tanzakademie und schildert eindrucksvoll, vor welche Zerreißproben das Leben im "Gefängnis" namens DDR den Einzelnen stellte. Sie blieb im Land, ohne der Schwester den Absprung in den Westen je zu verübeln.

Mit der DDR verschwand mehr oder weniger auch ihre Tanzkultur. Nirgends wurden Traditionslinien wie in Stuttgart oder Essen etabliert. Einiges ist eine Wiederentdeckung wert. Falls Salar Ghazi sich eine Fortsetzung seiner Dokumentation vorstellen kann: Das wäre ein Thema.

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