Bayerisches Staatsballett: "Cinderella":Aschenputtel leuchtet

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Auf einem Bein kann man doch stehen: Cinderella (Madison Young) und der Prinz (Jinhao Zhang) vor einem Baum, dem eigentlichen Fixpunkt des Geschehens in Christopher Wheeldons zeitgemäßer Bühnenarbeit. (Foto: Serghei Gherciu)

Das Bayerische Staatsballett bezaubert mit Christopher Wheeldons zeitgemäßer "Cinderella" - der Choreograf muss vom Broadway aus zusehen und ist deswegen "so sorry".

Von Dorion Weickmann

Hinter der Bühne des Münchner Nationaltheaters steht ein Regal, von den Technikern eigenhändig angefertigt. Es hat gut 70 Fächer, gerade so viele, wie das Bayerische Staatsballett inklusive Juniorcompany an Tänzern zählt. Auftreten dürfen sie ohne Mund-Nasen-Schutz, aber egal, wie diffizil die Rolle, der Pas de deux, das Solo zu tanzen ist - wer abgeht, muss sofort seine FFP2-Maske aus dem Regal angeln. Ganz schöne Zumutung angesichts einer Premiere, die allen Lyrismen zum Trotz phasenweise recht schnittig daherkommt: Christopher Wheeldons "Cinderella", an der Staatsoper als Deutschlandpremiere gezeigt, ist ein klug konzipiertes Handlungsballett mit hohem Charmefaktor, dazu ebenso opulent wie zauberhaft dekoriert.

Der Choreograf kam allerdings nicht in den Genuss, dem München-Debüt seines Aschenputtels beizuwohnen. Auch die Proben hat Wheeldon drei Vertrauten überlassen, weil eine andere Produktion ihn in New York festnagelt. Am Broadway geht unter seiner Regie das mehrfach verschobene "Michael Jackson"-Musical in die Previews, da kann er nicht weg. "So sorry", sagt er ein paar Tage vor der Premiere beim Zoom-Gespräch. Schade allerdings vor allem für ihn selbst, denn das Bayerische Staatsballett hat seine "Cinderella" auf Hochglanz poliert.

Dank Madison Young leuchtet die Titelheldin selbst in Momenten tiefster Verzweiflung: am Grab der Mutter, im Abseits der Stieffamilie, beim Glockenschlag, der das Ende des Balls verkündet. Dort hat sie ihr Herz an den Prinzen verloren, den Jinhao Zhang mit galantem Liebreiz zeichnet, in feinem Kontrast zur spitzbübischen Energie seines Freundes Benjamin alias Jonah Cook. Hinreißend auch Vater, Stiefmutter und die Stiefschwestern Edwina und Clementine. Statt Karikaturen zu pinseln, porträtiert Wheeldon zwei Mädchen mit mangelhafter Impulskontrolle. Wobei ihm selbst, wie er im Gespräch bekennt, die Brillenschlange Clementine über die Jahre zur liebsten Figur geworden ist - "sie verändert sich und findet so ihr Glück", in den Armen des flotten Benjamins.

Christopher Wheeldon nimmt ohne Probleme die Direttissima vom Ballett zum Broadway

Von Literaturvorlagen abzuweichen, ist für Wheeldon ebenso typisch wie die Abkehr von legendären Lesarten des eigenen Fachs. Seit Frederick Ashton 1948 die Partitur Prokofjews für das westliche Ballett-Repertoire entdeckte, hat "Cinderella" sich als europäischer Evergreen etabliert. Von seinem Landsmann Ashton hat Wheeldon das Gespür für spektakuläre Effekte geerbt, für Humor, Timing und vitale Charaktere, die sich im Spiegel der Tanzkunst spreizen. Inzwischen zählt der achtundvierzigjährige Brite zu den gewitztesten, vor allem jedoch gefragtesten Vertretern seines Metiers.

Einst an der Royal Ballet School in London ausgebildet, zog es Wheeldon bald nach New York, wo er am City Ballet Tanzkarriere machte und sich rasch auf die Choreografie verlegte. Binnen weniger Jahre speiste er seine kreative Signatur erfolgreich ins internationale Ballettgeschäft ein. Schließlich kommen selbst Wheeldons abstrakte Schöpfungen wie "Polyphonia" (2001), "Within the Golden Hour" (2018) oder zuletzt "Corybantic Games" schwungvoll und showy daher - sozusagen mit Ausrufezeichen, aber ohne die Spitzzüngigkeit französischer Tanzrhetorik. Als Handlungsballett-Autor arbeitet er mit Vorliebe im Team, setzt Akzente auf Ausstattung, Musik, Licht- und Videodesign. Mit der 2017 aus London importierten "Alice's Adventures in Wonderland"-Inszenierung hatten die Münchner bereits einen exzellenten Wheeldon-Einkauf getätigt. Die 2012 in Amsterdam uraufgeführte "Cinderella" erweist sich als nicht minder reizvolle Investition, deren unterhaltsame Machart im Übrigen auch erklärt, weshalb Wheeldon ohne Probleme die Direttissima vom Ballett zum Broadway genommen hat.

Die Leistung des mitreißend auftanzenden Ensembles lässt jedenfalls keinen Moment ahnen, dass es hinter den Kulissen des Staatsballetts ordentlich brodelt. (Foto: Wilfriedi Hösl)

Dort erscheint er zum Zoom-Termin zwar ein paar Minuten verspätet, weil ihm New Yorks U-Bahn einen Strich durch den straff getakteten Tagesplan gemacht hat. Aber dafür sitzt er schon mitten im Neil Simon Theatre und begrüßt den digitalen Besuch mit einem Schwenk über das frisch renovierte Interieur des 1927 eröffneten Hauses. Seinerzeit wurde es von Fred Astaire bespielt, demnächst geht für die Hommage an Michael Jackson der Vorhang hoch - ohne Corona-Probleme? "Genau wissen wir das nicht, aber derzeit ist die Lage im Griff", meint Wheeldon.

Er selbst hat die Pandemie als komplettes Not-Aus einerseits und interessanten Rollentausch andererseits erlebt: "Sonst war ich immer busy, jetzt konnte ich meinen Mann unterstützen, der alle Hände voll zu tun hatte." Seit 2013 ist der Choreograf mit dem Yoga- und Meditationslehrer Ross Rayburn verheiratet, dessen Know-how in der Krise gefragt war wie nie - während der Künstler verwaltungstechnische Altlasten abarbeitete und ansonsten jene Fähigkeit trainierte, die er ganz New York zugutehält: "Resilienz, also eine Art innere Elastizität, die es ermöglicht, sich selbst von enormen Katastrophen zu erholen und mit dem Hier und Jetzt auszusöhnen."

So gesehen ist Resilienz auch die Eigenschaft, die Wheeldons "Cinderella" jenseits aller Märchenseligkeit so ganz und gar zeitgemäß macht. Madison Young verkörpert diese Facette der Rolle, als wäre es ihre zweite Haut: Ob im Rüschen-, Kittel- oder Ballkleid, Cinderella bleibt sich über den familiären Kollaps und alle Erniedrigungen hinweg treu. Ihre seelische Substanz mag Risse erleiden, aber nie einen Bruch. Die vier Schicksalsgeister, die ihre choreografische Reise zur Reife begleiten, stehen für das innere Team, das Trost und Beistand spendet - Agenten der Resilienz statt biedere Ballettakteure.

Eine gigantische Zeder kracht ins Haus der Eltern - ein Bild beginnt zu wurzeln

Der zentrale Fixpunkt des Geschehens aber ist ein Baum, zunächst nur ein Winzling am Grab der Mutter, dann schützendes Dach über Cinderellas Metamorphose zur Ballkönigin, zuletzt sattgrüne Kulisse für das Happy End. Ob "Nussknacker", ob "The Winter's Tale": Baumriesen ziehen sich leitmotivisch durch Wheeldons Bühnenfantasien, als Symbol der Zuflucht, Erneuerung und Verwandlung. Das Bild wurzelt in seiner Kindheit, wie der Choreograf erzählt. "Im Garten meines Elternhauses stand eine gigantische Zeder, eigentlich viel zu groß für das kleine Fleckchen Erde, auf dem sie wuchs. Sie hat uns beschützt und beschirmt, doch als ich elf oder zwölf Jahre alt war, knickte einer ihrer Äste im Sturm. Er stürzte ab und in unser Haus hinein. Diese Erfahrung hat mich begleitet, als Inbild des Gestaltwandels und Triumph der Natur."

Seit Frederick Ashton 1948 die Partitur Prokofjews für das westliche Ballett-Repertoire entdeckte, hat "Cinderella" sich als europäischer Evergreen etabliert. (Foto: Serghei Gherciu)

Julian Crouchs Bühnenbild, Natasha Katz' stimmungsvolle Lichtregie und die Videoprojektionen von Daniel Brode sind ein Pfund, mit dem Wheeldons "Cinderella" auch in der Münchner Staatsoper wuchern kann. Aber Basil Twists flirrender Traumbaum ist die eigentliche Sensation und macht den Triumph des Bayerischen Staatsballetts perfekt. Die Leistung des mitreißend auftanzenden Ensembles lässt jedenfalls keinen Moment ahnen, dass es hinter den Kulissen ordentlich brodelt. Der Führungsstil von Ballettchef Igor Zelensky steht in der Kritik. Was Kommunikation, Disposition und Organisation betrifft, liegt offenbar einiges im Argen. Dabei könnte schon die Überlegung weiterhelfen, dass am Ende allein die Tänzer und Tänzerinnen ihre Knochen für die Kunst hinhalten, Publikum anziehen und mithin jeden Respekt verdienen.

Christopher Wheeldon bleibt derweil in New York, er muss sich um solche Querelen keinen Kopf machen. Im nächsten Sommer, "who knows, maybe", kann er womöglich nach Hamburg reisen, um dort die deutsche Erstaufführung von "The Winter's Tale" einzustudieren. Ob bis dahin auch die Hinterbühnen-Regale mit FFP2-Masken aus der Münchner Staatsoper verschwunden sind? Die Hoffnung stirbt zuletzt.

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