Passionszeit ist, wenn es für alle Schokoladeneier gibt, für Kinder wie Erwachsene, könnte man meinen. Denn in den Supermärkten stapeln sich schon die Schokoladeneier und -hasen, schließlich ist bald Ostern. Ist das dann rum, werden aber die Süßigkeiten schnell verschwinden, die an die christliche Auferstehungsgeschichte erinnern. Ein Ritual, schnell begangen, schnell vorbei. Aber auch im Kirchenjahr ist momentan Fastenzeit, die Vorbereitung auf die Osterzeit, die mit Ostern ja erst beginnt. Die Konzertveranstalter orientieren sich da schon eher am liturgischen Kalender. Bei ihnen stapeln sich derzeit wieder Aufführungen von Johann Sebastian Bachs Matthäus-Passion, konkurrenzloser Spitzenreiter unter den Vertonungen der biblischen Passionstexte.
Auch im Theater Basel steht sie auf dem Programm, in einer szenischen Version, wie sie Regisseure immer wieder gereizt hat. Benedikt von Peter, seit 2020 Intendant in Basel, lässt dafür gleich das halbe Haus umbauen. Auf der Hinterbühne ist eine weitere Zuschauertribüne installiert, das Publikum sitzt sich in zwei Hälften gegenüber. Links und rechts des Spielpodests in der Mitte verteilt sich das Sinfonieorchester Basel; Chor und Extrachor des Theater Basel singen in mehreren Formation auf den Tribünen und der Galerie. Es lässt die Doppelchörigkeit der Musik zu Architektur werden, die sich bei konzertanten Frontalaufführungen schnell auflöst. Die beiden Chöre antworten einander, vereinen sich aber auch zur schlagkräftigen Masse, die die grausame Hinrichtung des Jesus von Nazareth betreibt.
Alessandro de Marchi fungiert da mehr als musikalischer Koordinator denn als Dirigent, bleibt geradlinig in raschen Tempi. Das Sinfonieorchester Basel phrasiert plastisch, lebendig besonders bei den Bläsern, spielt aber auf modernen, nicht auf historischen Instrumenten, wie sie in avancierteren Aufführungen inzwischen üblich sind. Es passt durchaus zu einer Ästhetik, die nicht nach Perfektion strebt, sondern nach Teilhabe. Unter den Zuschauern sind weitere Sänger aus Laienchören der Region verteilt, die zum Mitsingen animieren. Brav stimmen wir ein bei "O Haupt voll Blut und Wunden".
Alles wird brav gezeigt: Will sich Peter für die Passionsspiele Oberammergau bewerben?
Das Theater hat, ob im antiken Griechenland oder den Passionsspielen des Mittelalters, seinen Ursprung in geheiligten Räumen, in denen Gemeinschaften sich ihre Geschichten erzählten. Wie Bach mit seiner Matthäus-Passion einst die Leipziger Thomaskirche in einen latent theatralen Raum verwandelte, so lässt Peter umgekehrt das Theater zum Ritualraum werden. Der Inhalt des Rituals ist bekannt, von Tausenden Malern in den immer gleichen Bildtopoi dargestellt. Peter stellt sie nach auf dem Spielpodest in der Mitte, in Tableaux Vivants, wie sie etwa bei den Passionsspielen in Oberammergau üblich sind.
Als Spielleiter fungiert Robin Tritschler, der Sänger des Evangelisten, für den sein heller Tenor in der Mischung aus weichem Klang und prägnanter Artikulation ideal ist. André Morsch singt den Christus als leidenden, auch kämpferischen Menschen, nicht als balsamisch sich verströmenden Gott. Das letzte Abendmahl, das Gebet in Gethsemane, Jesus vor Pilatus: Keines der traditionellen Motive fehlt hier, auch keines der traditionellen Requisiten, Palmzweige, Speere, Fackeln, Römerhelme und ein allerliebstes Stofflamm, Symbol für die Unschuld Jesu. Will Peter sich etwa für die Nachfolge von Christian Stückl in Oberammergau bewerben?
Nicht ganz, denn die hier spielen, sind Kinder, Mitglieder der Mädchenkantorei und der Knabenkantorei Basel. Manchmal singen sie auch, den Cantus firmus im Eröffnungschor oder kleine Rollen. Meistens aber stehen sie nur da mit einem Ernst, den Erwachsene kaum aufbrächten, von Kostümbildnerin Lene Schwind in pastellene Nazarenertöne gekleidet, mit fabelhaften Schnitten, aber für den Gegenwartsgeschmack doch etwas süßlich. Schließlich sind Kinder normal fürs Krippenspiel zuständig, nicht für die Leidensgeschichte. Es setzt ein subtiles, aber deutliches Fragezeichen. Glauben wir an dieses Ritual nur noch wie manche Kinder an den Weihnachtsmann oder den Osterhasen? Braucht es dafür kindliche Herzensunschuld? Oder doch nur Naivität, gar Dummheit?
Der Regisseur stellt ein Ritual zur Diskussion, indem er es buchstäblich in den Raum stellt
Für Bach gab es da keinen Zweifel: "Gerne will ich mich bequemen, Kreuz und Becher anzunehmen", singt der Bass in einer der Arien, die die Anwendung auf den Einzelnen bieten: Mit seinen Sünden hilft er diesen Jesus hinrichten und wird dabei zugleich von ihnen befreit. Das ist christliche Theologie bis heute, auch wenn das Opfermotiv schon seit der Aufklärung Stein des Anstoßes ist. Die Solisten Álfheiður Erla Guðmundsdóttir, Beth Taylor, Nathan Haller, Christian Senn, zuständig für die Arien und die kleinen Solopartien, eilen zwischen Spielpodest und Zuschauertribünen hin und her, wechseln vom Betrachten in die Rolle eindringlicher Vermittler. Was sie vermitteln, ist in Videoprojektionen über dem Spielpodest zu lesen: Demut, Erdulden, Verzicht, Liebesopfer - alles keine beliebten Werte in individualistischen westlichen Gesellschaften.
Oder doch wieder, wenn man an Bewegungen wie "Fridays for Future" denkt, die Benedikt von Peter inspiriert haben? Er wolle die Passion als "Wertemaschine" sichtbar machen, sagt er im Programmheft. Eines der Mädchen, progressiver gekleidet als die anderen, stört sich offenbar daran. Es ruft apokalyptische Bibeltexte ins Publikum, will den anderen das schwere Kreuz abnehmen. Der Evangelist treibt die Kinder zurück in ihre Rollen, kann aber die Zweifel nicht ersticken, die manche von ihnen in einem Video am Schluss formulieren.
Es bleiben die einzigen Elemente klassischer Dekonstruktion, etwas zu spät und nicht hinreichend durchgeführt. Paradoxerweise wäre der Abend sogar noch irritierender, wenn die Regie bei der reinen Versuchsanordnung bliebe. Denn die dekonstruiert und rekonstruiert sich im Vollzug quasi ständig selbst. Peter stellt ein Ritual zur Diskussion, indem er es buchstäblich in den Raum stellt. Er interpretiert es nicht vom Regiehochsitz aus, sondern lässt es sich selbst befragen. Leise, aber nachdrücklich. Passionszeit ist, wenn es für alle Schokoladeneier gibt, für Kinder wie Erwachsene. Oder doch mehr?