Autobiografie von Christoph Schlingensief:Kunst ist eine Mutprobe

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Doppelbelichtung als Versuch, Unterschwelliges sichtbar zu machen: Das war für den 2010 verstorbenen Künstler Christoph Schlingensief eine Weltanschauung. Sprunghaft wie seine Arbeiten sind auch die Erinnerungen - aus dieser Unschärfe gewinnt seine Autobiografie ihren Reiz.

Till Briegleb

Der vor knapp zwei Jahren verstorbene Aktionskünstler Christoph Schlingensief auf einem Archivbild von 2006. Das Wandbild hinter ihm soll die verschiedenen Bereiche des "Animatographen" veranschaulichen.  (Foto: dapd)

Eines der Opfer des digitalen Zeitalters ist die Doppelbelichtung. Die Tante, die über ihrer Torte schwebt, das Auto zwischen Schwimmreifen im Adriawasser, Papa und Mama als Doppelgeist, diese bizarren Produkte des Zufalls hat der Perfektionsdrang der Fototechnik als Erscheinungen aussortiert. Bei Christoph Schlingensief allerdings hat dieser schöne Fehler der mechanischen Camera überlebt: als Schlüsselerlebnis seiner Kindheit wurde daraus nicht nur eine Werkidee, sondern eine Weltanschauung.

Es war das "Revolutionsjahr" 1968, als die dreiköpfige Kleinfamilie Schlingensief Papas Urlaubsfilme ansehen wollte und plötzlich fremde Menschen über die Bäuche von Mutter und Kind am Strand marschierten. Der damals Achtjährige, so erinnerte sich Schlingensief bei verschiedenen Anlässen, reagierte mit Begeisterung auf diese "falschen", zweifach belichteten Bilder. Dass dieses Kapitel in der Autobiografie Christoph Schlingensiefs, "Ich weiß, ich war's", als "Die Urszene" figuriert, erklärt mehr, als es solche Kindheitsanekdoten für gewöhnlich tun.

Denn in diesem Moment im Wohnzimmer wirkten drei Dinge zusammen, die das spätere ausufernde Schaffen von Christoph Schlingensief geprägt haben: der Zufall (als Einbruch des Lebens in die Inszenierung), die Verstörung (als Chance, das Denken zu ändern) und das Prinzip der Mehrfachbelichtung (als Ästhetik des Zweifelns). Schlingensiefs lebenslanger Arbeitsstil der spontanen, assoziativen Mutprobe wurzelt in diesen Komponenten, seine provozierenden Methoden, um unterschwellige Themen der Gesellschaft sichtbar zu machen, finden ihren Urknall in diesem Erlebnis.

Mehrfachbelichtung als Prinzip hat Schlingensief - der bald nach diesem verkorksten Filmabend wusste, dass er Regisseur werden will - in seinen jugendlichen Frühwerken tatsächlich auch ganz praktisch ausprobiert. Aber viel bedeutender wurde das inszenierte Missgeschick für ihn als Haltung. Er blendete weniger Bilder als Vorstellungen in- und übereinander, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun hatten. Figuren waren nie, was sie schienen, sondern immer verbunden mit anderen Geschichten und Hintergründen, Bühnen wucherten mit Symbolen bis zur totalen Überforderung, Erklärungsversuche versagten an der Doppelbelichtung von Sinn mit Unsinn. Und das weckte - wie Schlingensief zunächst voller Unverständnis erleben musste - beim Zuschauer zunächst Ablehnung und Wut.

Das Würdevolle muss entziffert werden

Dabei ist es einem normalen Kinogänger kaum übel zu nehmen, dass ihn ein szenisches Happening wie der 1989 an einem Tag in einem Bunker gedrehte Film "100 Tage Adolf Hitler", der künstlerische Einflüsse von Fassbinder und Beuys, von Stummfilm und Klamotte zu einer Doku-Travestie über das Debile im Faschismus vereint, verstört zurückließ.

Das Würdevolle an der Kunst von Christoph Schlingensief versteckte sich in Aggressionen und musste zunächst entziffert werden. Als Schlingensief 2004 in Bayreuth Wagners "Parsifal" mit dem verwesenden Hasen und einer chthonischen Muttergottheit, mit arabischen Schriftzeichen, Voodoo und Pavianärschen überblendete, trauten sich dann aber nur noch ein paar ganz hartgesottene Wagnerianer, Schlingensiefs Gesamtkunststückwerk dilettantisch zu nennen.

Dass seine Lebenserinnerungen ähnlich sprunghaft in- und übereinander geschichtet sind wie seine Arbeiten, folgt allerdings nicht nur künstlerischen Prinzipien. "Ich weiß, ich war's" entstand in den letzten Monaten vor seinem Krebstod im August 2010 und bleibt diesen Umständen entsprechend fragmentarisch. Seine Frau Aino Laberenz hat besprochene Bänder, die für die Autobiografie entstanden sind, mit bereits veröffentlichten Interviews, Blogeinträgen, Abschriften von öffentlichen Auftritten und Funden aus dem Nachlass kombiniert.

Eine Chronologie ergibt das so disparate Material nur abschnittsweise, und doch vermisst man sie nicht. Der direkte offene und persönliche Ton, der Schlingensief sein Leben lang so große Sympathien eingebracht hat, erzeugt auch hier ein Gefühl von intensiver Teilhabe an seinem Denken, als wäre der Verstorbene präsent.

Lebensgeschichte erzählt dieses Buch in der gedankenschnellen Verknüpfung von Ereignissen und Moral, Ärgernissen und Spott, Assoziationen und Selbstreflexionen. Alles beginnt mit der Liebe zu Aino Laberenz und der Hochzeit und endet mit einem Drehbuchplan, beides im Angesicht des nahen Todes. Und wie bereits in seinem Krebstagebuch "So schön wie hier kann's im Himmel gar nicht sein!" beschreibt Schlingensief auch in diesem letzten Zeugnis sein Leben in humorvollem Bezug auf tragische Leitmotive.

Christoph Schlingensief ist tot
:"So schön kanns im Himmel gar nicht sein!"

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Ängste spielen hier eine zentrale Rolle: die Angst, nicht lieben zu können und nicht wirklich geliebt zu werden, die Angst zu scheitern - und wie diese Panik in eine Kraft verwandelt werden kann -, schließlich natürlich die Angst vor dem Tod und das darin sich äußernde Unbeherrschbare.

Gerade im Bann dieses Schreckens zeigt sich die besondere Ambivalenz von Schlingensiefs Persönlichkeit. Der scheinbar entfesselte Spontankünstler besaß einen starken Hang zur Kontrolle, der bei aller Befreiung der Form stets sehr darum bemüht war, die Vorgänge gedanklich zu rationalisieren. Aus dieser Gegensätzlichkeit von Chaos und Ordnung und der Offenheit, mit der Schlingensief damit umgegangen ist, entsprang vermutlich die extreme schöpferische Vielfalt seiner Kunst und seines Sprechens, die auch dieses Buch so fesselnd macht.

Fragmentarische Unschärfe

Eine umfassende Biografie entsteht auf diesem Weg natürlich nicht. Denn erzählte Geschichte war für Schlingensief immer nur der Anlass, um über Bedeutung nachzudenken. Folglich werden manche Projekte über-, manche unterbelichtet, viele, die zuletzt keine Dringlichkeit mehr in der Erinnerung hatten, ganz ausgeblendet. Über den Kampf auf dem Grünen Hügel um die "Parsifal"-Inszenierung, das Operndorf in Burkina Faso oder die Container-Aktion "Ausländer raus" in Wien erfährt man relativ viel, über andere einflussreiche Filme und Theaterarbeiten aus dreißig Jahren wüsten Schaffens aber höchstens in Randbemerkungen. Persönliche Freundschaften oder das Verhältnis zu langjährigen Mitarbeitern wie Carl Hegemann, Bernhard Schütz, Matthias Lilienthal, Udo Kier oder Dietrich Kuhlbrodt werden eher summarisch, wenn auch dankbar behandelt. Dagegen bekommen die studentischen Künstler und hippen Kleinfamilien an seinem letzten Wohnort am Prenzlauer Berg reichlich ihr Fett weg.

Aber Christoph Schlingensief hat sich sowieso nie darum geschert, wie etwas "eigentlich" zu sein hat. Er war immer auf der Suche nach der Schönheit der Fehler. Und diese Suche war eben sprunghaft, manchmal hysterisch, aber in ihrem liebevollen Interesse für die Menschen dann doch sehr konsequent: Das Eigentümliche ist das Freie, das war sein Blick auf die Welt. Und der ist in seiner ganzen fragmentarischen Unschärfe so viel interessanter als das gestochen scharfe Bild, das eine anständig durchredigierte Künstlerbiografie geliefert hätte.

Christoph Schlingensief: Ich weiß, ich war's. Hrsg. von Aino Laberenz. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2012. 304 Seiten, 19,99 Euro.

© SZ vom 19.10.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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