Ausstellung "Jugendstil - Die große Utopie":Das Weib in Akten stillen Selbstbewusstseins

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Um ihre These zu illustrieren, schaffen die Kuratorinnen die nötigen Kontraste. Film- und Fotodokumente über Kinderarbeit oder die Fließbandproduktion in einer englischen Keksfabrik stehen hier "Rehsprünge" in freier Natur gegenüber, wie sie "Reformtänzerinnen" auf dem berühmten Monte Veritá in der Schweiz erfanden.

Oder die Verhaftung von Suffragetten und die "Heilung" der Frauenkrankheit "Hysterie" wird als Alltag im Vorkriegseuropa konfrontiert mit Gemälden von Malerinnen wie Broncia Koller-Pinell oder Elena Luksch-Makowsky. Anders als ihre hier ebenfalls gezeigten männlichen Kollegen Gustav Klimt oder Edvard Munch deuten sie das Weib nicht als rätselhaftes Lustobjekt oder Gefahr für den Mann, sondern in Akten stillen Selbstbewusstseins.

Die Vielzahl der Utopien und Behauptungen in der damaligen Gegenkultur wird in kleinteiligen Aspekten dargestellt, ebenso wie die komplexe Menge der Einflüsse, aus denen Jugendstil und Lebensreform ihre Anregungen schöpften.

Von der Psychoanalyse bis zur Röntgenstrahlung, vom antiken Arkadien bis zu Nietzsches Lebensphilosophie, von japanischer Kultur bis zu Karl Marx reichen die Verknüpfungen, deren tatsächliche Relevanz für den Jugendstil aber in der Fülle der Beispiele stets nur angedeutet werden kann.

Die Ausgangsfrage der Ausstellung, warum der Zusammenhang zwischen Gesellschaftsutopie und Stil heute wie aufgelöst erscheint, wird in dieser interessanten Verästelung des Themas folglich nicht dezidiert beantwortet. Aber das Material bleibt die Antwort auch nicht schuldig.

Von der Gesellschaftsutopie blieb nur das originelle Formenspiel übrig

Der Vorwurf des Weltfernen und Sektiererischen, den die ökonomische Vernunft seit jeher für Alternativkulturen parat hatte, konnte auch den Jugendstil als kritisches Phänomen entschärfen.

Da half es nichts, dass die Beobachtungen über die sozialen und menschlichen Schäden des Kapitalismus damals völlig zutreffend waren. Die individualistische Antwort, sei sie spirituell, sozial oder ästhetisch, konnte in der rücksichtslosen Dynamik der Wirtschaftsentwicklung nie wirklich Durchschlagskraft entwickeln.

Was dann vom Jugendstil übrig blieb, das war das originelle Formenspiel, aus dem man eine Luxusindustrie entwickeln konnte. Über diese Schönheit gibt dann die Dauerausstellung des Museums in lichten Räumen ausführlich Zeugnis. Und hier erscheint einem dann der Jugendstil wieder wie Chanel, nicht wie Punk. Allerdings zeigt das Museum auch nur die Formen. Die Reform-Ideen jener Zeit sind tatsächlich gesellschaftlich längst konkret. Die großen Utopien waren also nicht ganz umsonst.

Jugendstil. Die große Utopie. Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg. Bis 7. Februar 2016; Der Katalog ( Eigenverlag) kostet 24,90 Euro.

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