Wenn Chanel den Punk als Chic entdeckt, der Atomkonzern RWE den Atomgegner Joseph Beuys in seinem Foyer ausstellt, oder wenn Che Guevaras Konterfei von Feuerlöschern, Handyhüllen oder Kühlboxen blickt, dann ist das moderner "Jugendstil": das sinnentleerte Endprodukt von Protestformen. Was einst als Konsum- und Gesellschaftskritik entstand, wird nun von eben dieser Konsumgesellschaft als juvenile Werbebotschaft vermarktet.
Der historische Jugendstil ist für diese Zahnlosigkeit das beste Vorbild. Nur als Retro-Kitsch in Form von Postern, Nippes, Windlichtlein oder Türbeschlägen ist das Repertoire dieser Kunstbewegung auf uns gekommen.
Dabei war der Jugendstil zu seiner Entstehungszeit eingebettet in eine vitale Gegenkultur, die unter dem Schlagwort "Lebensreform" die Auswüchse des Hochkapitalismus bekämpfen wollte. Warum, fragen die Kuratoren der Ausstellung "Jugendstil - Die große Utopie" im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe deshalb, wurde das "groß angelegte gesellschaftliche Projekt" am Ende reduziert auf den Stilbegriff?
Um dieser Reduzierung nicht selbst anheimzufallen, wird der Jugendstil als Kunstgattung in dieser Schau weder definiert noch klar abgegrenzt von Vorgänger- und Nebenbewegungen.
Jugendstil begreifen die Ausstellungsmacherinnen Claudia Banz und Leonie Beiersdorf vielmehr als Teil eines gedanklichen Kontinuums, das Mitte des 19. Jahrhunderts mit der englischen Arts-and-Crafts-Bewegung begann und um die Jahrhundertwende in Mitteleuropa ein ganzes Panorama an Gesellschaftsalternativen entwickelt hatte.
Weniger Industrie, dafür mehr nacktes Bogenschießen und vegetarisches Essen
So ist diese Ausstellung bevölkert von nackten bärtigen Zauseln, die als Radikaleremiten in der Wildnis nach dem ursprünglichen Leben suchten, wie von "Naturmenschkolonien", die im Adamskostüm Bogenschießen, Fleischlosigkeit und Lichtbad kultivierten.
Der Sozialismus als Kunsthandwerk mit großbürgerlichem Sendungsbewusstsein, wie ihn die Arts-and-Crafts-Bewegung propagierte, wird mit seiner berühmten Mittelaltersehnsucht in Gemälde- und Tapetenformen ebenso ausgestellt wie in seinen Pamphleten gegen den "Vampirismus des Kapitals".
Und die damals weitverbreitete Begeisterung für die spirituellen Lehren der Theosophie oder das heile Paradies der Südsee findet Beispiele in Gemälden von Ferdinand Hodler oder Paul Gauguin, die diese besondere Art der fantastischen "Natürlichkeit" in eindringliche Porträts gebannt haben.
Jugendstil ist in der Lesart dieser Ausstellung also eine Protestform der Selbstbestimmung, die sich vor allem durch ihre Gegnerschaft zu den modernen Tendenzen von Massenproduktion, Technikgläubigkeit und Wachstum erklärt.
Der neue Mensch des industriellen Zeitalters erscheint hier als ein Wesen der äußeren Zwänge, das seine Ursprünge vergisst, sein Dasein im stumpfen Arbeiten zum Reichtum anderer verschwendet, und das in Städten lebt, die Vermassung statt Individualität fördern.
Gegen diese bedrohliche Zivilisation propagierte die Lebensreform-Bewegung das Natürliche, Glückliche und Schöne als bessere Wahrheit - und der Jugendstil lieferte dazu einen großen Teil des Bildprogramms.
Um ihre These zu illustrieren, schaffen die Kuratorinnen die nötigen Kontraste. Film- und Fotodokumente über Kinderarbeit oder die Fließbandproduktion in einer englischen Keksfabrik stehen hier "Rehsprünge" in freier Natur gegenüber, wie sie "Reformtänzerinnen" auf dem berühmten Monte Veritá in der Schweiz erfanden.
Oder die Verhaftung von Suffragetten und die "Heilung" der Frauenkrankheit "Hysterie" wird als Alltag im Vorkriegseuropa konfrontiert mit Gemälden von Malerinnen wie Broncia Koller-Pinell oder Elena Luksch-Makowsky. Anders als ihre hier ebenfalls gezeigten männlichen Kollegen Gustav Klimt oder Edvard Munch deuten sie das Weib nicht als rätselhaftes Lustobjekt oder Gefahr für den Mann, sondern in Akten stillen Selbstbewusstseins.
Die Vielzahl der Utopien und Behauptungen in der damaligen Gegenkultur wird in kleinteiligen Aspekten dargestellt, ebenso wie die komplexe Menge der Einflüsse, aus denen Jugendstil und Lebensreform ihre Anregungen schöpften.
Von der Psychoanalyse bis zur Röntgenstrahlung, vom antiken Arkadien bis zu Nietzsches Lebensphilosophie, von japanischer Kultur bis zu Karl Marx reichen die Verknüpfungen, deren tatsächliche Relevanz für den Jugendstil aber in der Fülle der Beispiele stets nur angedeutet werden kann.
Die Ausgangsfrage der Ausstellung, warum der Zusammenhang zwischen Gesellschaftsutopie und Stil heute wie aufgelöst erscheint, wird in dieser interessanten Verästelung des Themas folglich nicht dezidiert beantwortet. Aber das Material bleibt die Antwort auch nicht schuldig.
Von der Gesellschaftsutopie blieb nur das originelle Formenspiel übrig
Der Vorwurf des Weltfernen und Sektiererischen, den die ökonomische Vernunft seit jeher für Alternativkulturen parat hatte, konnte auch den Jugendstil als kritisches Phänomen entschärfen.
Da half es nichts, dass die Beobachtungen über die sozialen und menschlichen Schäden des Kapitalismus damals völlig zutreffend waren. Die individualistische Antwort, sei sie spirituell, sozial oder ästhetisch, konnte in der rücksichtslosen Dynamik der Wirtschaftsentwicklung nie wirklich Durchschlagskraft entwickeln.
Was dann vom Jugendstil übrig blieb, das war das originelle Formenspiel, aus dem man eine Luxusindustrie entwickeln konnte. Über diese Schönheit gibt dann die Dauerausstellung des Museums in lichten Räumen ausführlich Zeugnis. Und hier erscheint einem dann der Jugendstil wieder wie Chanel, nicht wie Punk. Allerdings zeigt das Museum auch nur die Formen. Die Reform-Ideen jener Zeit sind tatsächlich gesellschaftlich längst konkret. Die großen Utopien waren also nicht ganz umsonst.
Jugendstil. Die große Utopie. Museum für Kunst und Gewerbe, Hamburg. Bis 7. Februar 2016; Der Katalog ( Eigenverlag) kostet 24,90 Euro.