"Der schönste Junge der Welt" im Kino:Gefallener Engel

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"Geh, stopp, dreh dich um, lächle!" Das seien die einzigen Regieanweisungen gewesen, die er von Visconti erhalten habe, sagt Andrésen. (Foto: Imago/United Archives International)

Starregisseur Luchino Visconti nannte Björn Andrésen den "schönsten Jungen der Welt". Doch der blonde Knabe zerbricht an dem Schönheitsideal, das er verkörpern soll. Eine Doku über ihn zwängt den alten Mann nun erneut in ein Bild hinein.

Von Philipp Stadelmaier

Die Begegnung zwischen dem italienischen Starregisseur und dem schönsten Jungen der Welt ist auf Film festgehalten. Sie findet statt an einem bitterkalten Wintertag im Februar 1970, in einer luxuriösen Suite in Stockholm. Luchino Visconti macht gerade Probeaufnahmen für "Der Tod in Venedig", seiner Verfilmung der berühmten Novelle von Thomas Mann. Seit Jahren schon sucht der Filmemacher nach dem Darsteller für die Rolle des Tadzio, dem Jüngling mit den blauen Augen und den honigblonden Haaren. In ihm soll der Komponist von Aschenbach, die Hauptfigur des Films, die absolute Schönheit entdecken, und das Vorzeichen seines eigenen Todes.

Da betritt vor laufender Kamera Björn Andrésen den Raum, fünfzehn Jahre alt. Er ist elternlos bei seiner Großmutter aufgewachsen, die ihn auch zum Casting angemeldet hat. Visconti lässt ihn das Oberteil ausziehen und Fotos machen. Er ist hingerissen. Er hat seinen Tadzio gefunden.

Mit diesen Aufnahmen beginnen Kristina Lindström und Kristian Petri "Der schönste Junge der Welt", ihre Dokumentation über Andrésen. Schnitt in die Gegenwart - von den blauen Augen in den Stockholmer Probeaufnahmen auf die blaue Gasflamme in Andrésens Wohnung. Andrésen, bärtig, kettenrauchend und ausgemergelt, ist ein Wrack. Seine Freundin präsentiert einen versifften Teppich, den sie auf den Balkon gelegt hat. Seine Vermieterin droht mit Zwangsräumung.

Sprung zurück in die Vergangenheit. Die Dreharbeiten, rekonstruiert anhand von Amateurfilmaufnahmen und Fernsehreportagen, finden in Andrésens Schulferien in Venedig statt. Visconti ist ein absoluter Meister und arrangiert den jungen Mann nach Belieben. "Geh, stopp, dreh dich um, lächle!" Das, erzählt Andrésen später, seien die einzigen Regieanweisungen gewesen, die er erhalten habe. Die absolute Schönheit muss nicht denken.

In Japan haben sie Manga-Figuren nach ihm modelliert

Für den fragilen, sensiblen Jungen ist das alles aufregend, aber auch überfordernd. Was da sonst noch war, bleibt diffus und andeutungsschwer, ohne konkreter zu werden. Nach der Aufführung bei den Filmfestspielen in Cannes geht die größtenteils homosexuelle Crew in einen Schwulenclub. Visconti, selbst homosexuell, sei auch da gewesen, erinnert sich Andrésen. Wie er nach Hause kam, weiß er nicht mehr.

Der Film wird zum Welterfolg. Über Nacht wird Andrésen, den Visconti zum "schönsten Jungen der Welt" erklärt hat, zum internationalen Superstar. In Japan macht er Musik und Werbung, inspiriert sogar Manga-Figuren, aber schnell verliert er sich in der Bewunderung der anderen, verschwindet hinter dem Schönheitsideal, das er nun verkörpern soll. Er wird abhängig nach Tabletten und Alkohol, eine Ehe scheitert, sein kleiner Sohn stirbt am plötzlichen Kindstod, während er betrunken daneben liegt und schläft. Seine Diagnose der Todesursache später: "Mangel an Liebe."

Visconti habe ihn eine Geschichte illustrieren lassen, die nicht seine war, sagt Andrésens heutige, deutlich jüngere Freundin einmal. Die Aussage ist typisch 21. Jahrhundert, die das 20. Jahrhundert nicht mehr erträgt: Du spielst etwas, was du nicht bist? Eine unerträgliche Vorstellung. Dennoch ist die Aussage verständlich, wenn man bedenkt, was die Rolle mit Andrésen angerichtet hat. Und doch braucht es natürlich mehr als einen "Tod in Venedig", um ein Leben zu ruinieren. So entfalten Petri und Lindström im zweiten Teil ihres Films die Hintergründe einer traurigen und einsamen Kindheit. Andrésens Mutter wurde im Wald ermordet. Als alter Mann nimmt er nun Einsicht in die Akten, kann seine Tränen nicht verbergen.

Bei all dem bleibt der Moment, in dem der junge Mann die Gemächer des weltberühmten Regisseurs in Stockholm betritt und damit sein Schicksal besiegelt, die Urszene des Films. Und genau das ist sein Problem. Lindström und Petri erliegen erneut dem Charme des blonden Engels, wie einst Visconti. Auch sie machen, ausgehend von diesem Moment, Andrésen zur Ikone - nicht der Schönheit, sondern des Leidens. Der Film ist durchaus rührend, aber oft auch rührselig, wenn Andrésen mit schweren Schritten als ausgezehrte Silhouette durch dunkle Korridore und über winterkalte Strände schlurft. So instrumentalisieren die wohlmeinenden Filmemacher den armen Mann mit den blassen Augen erneut. Während dieser erneut die Kontrolle über sein eigenes Bild verliert.

The Most Beautiful Boy in the World , Schweden 2020. - Regie: Kristina Lindström, Kristian Petri. Kamera: Erik Vallsten. Mit Björn Andrésen. Missingfilms, 94 Min. Kinostart: 29.12.2022.

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