Antikriegsklassiker "Im Westen nichts Neues":Zwischen allen Fronten

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Die Botschaft des Romans war pazifistisch: Lew Ayres als Paul Bäumer (l.) und Louis Wolheim als Veteran in Lewis Milestones Verfilmung von 1930. (Foto: imago stock&people)

Geschmäht, verstümmelt, ausgewiesen: Die Geschichte von Erich Maria Remarques Buch "Im Westen nichts Neues" ist ein herzzerreißendes Lehrstück über vorauseilende Zensur.

Von Willi Winkler

Die amerikanische Hochzeit findet im Dom statt. Der Pfarrer ist bis zur Kirchentür gekommen und begrüßt die Braut. Die Blumenmädchen warten schon im Spalier, der Brautvater nimmt seine Tochter ein letztes Mal in den Arm, viele Plastikblumen, im Haar ein angedeutetes Diadem und allgemeine Hochstimmung.

Für alle, die bei diesem Fest nicht dabei sein dürfen, zieht eine Jazz-Combo durch die restaurierte Altstadt und bläst zum fröhlichen Einkaufen. Dazwischen fährt ein Krach wie von Panzerketten, die Köpfe heben sich, was ist los? Aber es ist Frieden, es ist bloß das Rad, mit dem die Postbotin ihre Pakete übers teure Pflaster schleppt.

Osnabrück nennt sich "Friedensstadt", weil dort und in Münster 1648 der Westfälische Frieden geschlossen wurde, der den Dreißigjährigen Krieg beendete. Im bisher letzten Krieg wurde Osnabrück von britischen und amerikanischen Fliegerverbänden bombardiert; die Altstadt verbrannte fast vollständig.

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Der berühmteste Osnabrücker ist der Schriftsteller Erich Maria Remarque, der 1929 bei Ullstein/Propyläen seinen Kriegsbericht "Im Westen nichts Neues" veröffentlichte. Ein Hotel heißt sogar Remarque. Der Gast schläft unter dem wandhohen Faksimile eines Briefes, den der inzwischen weltberühmte Autor einem seiner Regisseure schrieb, um ihm das Manuskript seines überfälligen Romans anzukündigen. In der Lobby sitzt, steht, sinnt Remarque als Kunstdruck.

Der S.-Fischer-Verlag hatte das Manuskript des Kriegsteilnehmers Remarque abgelehnt, weil sich angeblich niemand für Kriegsbücher interessiere. Bei Ullstein wurde, wie Thomas F. Schneider in der jüngsten Ausgabe darlegt, manches zurechtredigiert, um gegen die bereits erwartete Kritik gewappnet zu sein. Obwohl Wilhelm II. längst abgedankt hatte, wurden als Erstes die Bemerkungen über den Kaiser gestrichen, der aus Ruhmsucht den Weltkrieg riskiert habe.

Die Berliner SA grölt, als der Film beginnt

Ullstein verschickte zweihundert Rezensionsexemplare und zitierte den Schriftsteller Walter von Molo, der erklärte, das Buch sei "von allen Toten geschrieben". Der Erfolg übertraf alle Erwartungen: Innerhalb weniger Monate waren 1,2 Millionen Exemplare verkauft. Auf der Stelle wurde der Roman von konservativer Seite attackiert, Remarque als Luftikus entlarvt, als Hochstapler, als Drückeberger, der den Krieg nie gesehen habe.

Die Angriffe kamen auch von links: Carl von Ossietzky warf Remarque in der Weltbühne völlig grundlos politische Feigheit vor. Karl August Wittfogel, der sich im amerikanischen Exil als Denunziant seiner ehemaligen politischen Freunde hervortun sollte, zeterte in der Roten Fahne, dem Organ der KPD, über den "Lieblingsdichter der imperialistischen Bourgeoisie und ihrer kleinbürgerlichen Mitläufer".

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Noch wesentlich mehr Aufregung verursachte die Verfilmung. Der Universal-Chef Carl Laemmle hatte die Rechte an dem Roman erworben und plante eine Großproduktion. "Als ich deshalb Remarques Buch las und erlebte, welches herrliche Gefühl von Verständnis und Freundlichkeit gegen Deutschland es in Amerikanern und im Herzen anderer Nationen außerhalb Deutschlands weckte, war ich entschlossen, den guten Einfluss des Buches noch zu verstärken, indem ich den Film machte."

Laemmle, 1867 im schwäbischen Laupheim geboren, war 1884 nach Amerika ausgewandert. 1912 gründete er die Universal Studios und begann zeitgemäß mit billigen Filmen, darunter auch etlichen politisch eindeutigen Werken, die den Krieg, den die USA von 1917 an gegen Deutschland führten, auch propagandistisch unterstützen sollten. Dafür wurde er in Schwaben mit dem Tode bedroht. Nach Kriegsende versöhnte sich seine Heimatstadt wieder mit ihm. Laemmle besuchte Laupheim einmal im Jahr und gab als Onkel aus Amerika großzügig Geld für soziale Projekte.

Mit einem für damalige Verhältnisse ungeheuren Budget von 1,2 Millionen Dollar wurde der Schützengrabenkrieg an der europäischen Westfront mit zweitausend Statisten an der kalifornischen Laguna Beach nachgestellt. Ein Film ist ein Film, Unterhaltung und bald vorbei. "Im Westen nichts Neues" aber ist mehr.

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Bald nach Kriegsbeginn 1914 erstarrte die Westfront. Von der Kanalküste bis zur Schweizer Grenze gruben sich die Deutschen ein, ebenso Franzosen, Briten und deren Verbündete auf der anderen Seite. Was folgte, war ein Novum: Der Einsatz von Giftgas, Panzern und Artillerie tötete Hunderttausende.

Stanley Kubrick ("Wege zum Ruhm") und Peter Weir ("Gallipoli") haben von diesem Film gelernt. Steven Spielberg muss "Im Westen nichts Neues" besonders beeindruckt haben. Mit einer ungleich besseren Technologie lässt er in "Saving Private Ryan" die amerikanische Armee in der Normandie landen und zeigt sie mit einer realistischen Brutalität, wie das zum ersten Mal der Regisseur Lewis Milestone gewagt hatte. Heute wirkt der Film etwas hölzern, es wird viel bloß aufgesagt - der Tonfilm war eben erfunden worden -, manchmal ist er auch nur gut gemeint.

Goebbels hasste den Roman und er hasste Remarque

Ein Politikum war er von Anfang an. 1930 bekam "Im Westen nichts Neues" oder "All Quiet On the Western Front" (Keinerlei Vorkommnisse an der Westfront), wie Buch und Film im englischen Sprachraum heißen, den Oscar als bester Film. Louis B. Mayer hielt es sogar für möglich, dass er mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet würde.

Aber während sich Franzosen, Polen und etliche Amerikaner aufregten, dass die Deutschen, gegen die man Krieg geführt hatte, so menschlich dargestellt würden, wusste man sich im geschlagenen Deutschland zu empören, weil amerikanische Statisten unter einem jüdischen Regisseur und einem jüdischen Produzenten deutsche Soldaten spielten, die den Krieg nicht als Heldenepos erleben.

Joseph Goebbels hasste den Roman und er hasste Remarque. Mit seiner unmissverständlich pazifistischen Botschaft vertrug sich das Werk beim besten Willen nicht mit dem revanchelüsternen Programm der Hitler-Bewegung. Ein wenig Eifersucht war auch im Spiel. Im Mai 1930 lernte Goebbels eine Nichte von Hermann Göring kennen. "Harter Zusammenstoß mit ihr", notiert er im Tagebuch. "Sie ist schön und blond und lobte Remarque und die Juden. Gesinnungsperversion!"

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Der wenig erfolgreiche Schriftsteller Goebbels hatte anders als Remarque den Krieg versäumt, aber unter dem Titel "Michael. Ein deutsches Schicksal in Tagebuchblättern" (1929) selber eine Art Roman geschrieben, und deutsch ging es los: "Wir warten auf den Tag, der den Gewitterwind bringt. Wir werden im gegebenen Augenblick den Mut haben, den Willen zusammenzureißen zu einer Tat um das Vaterland." Die bot sich, als die amerikanische Verfilmung von "Im Westen nichts Neues" nach Deutschland kam.

Am 4. Dezember 1930 findet die Premiere im Mozartsaal am Berliner Nollendorfplatz statt. Carl Zuckmayer, Egon Erwin Kisch sind dabei, mehrere Minister, Ex-Reichskanzler Hermann Müller. Die staatliche Zensur hatte die "pazifistischen Tendenzen" wohl bemerkt, den Film aber gebilligt und sogar für staatsbürgerlich wertvoll befunden. Für Goebbels, Gauleiter der NSDAP in Berlin, beginnt der "Kampf um den Film".

Für die 19-Uhr-Vorstellung am folgenden Freitag haben seine Leute zweihundert Karten gekauft. Schon nach wenigen Szenen beginnen die SA-Leute zu grölen. Goebbels beschwört von seinem Platz im ersten Rang die deutsche Ehre, die durch den Film beschmutzt werde. Die SA hat weiße Mäuse mitgebracht, die sich unter den Stuhlreihen verteilen; Stinkbomben werden geworfen. Im Tagebuch frohlockt Goebbels: "Schon nach 10 Minuten gleicht das Kino einem Tollhaus. Die Polizei ist machtlos.

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Die erbitterte Menge geht tätlich gegen die Juden vor." Die Frankfurter Zeitung berichtet am nächsten Tag von Rufen wie "Nieder mit der Hungerregierung, die solch einen Film gestattet!" Die Polizei ist gezwungen einzuschreiten, es kommt zu Krawallen; zum ersten Mal können sich die NSDAP-Schläger im Westen Berlins breitmachen. "Draußen Sturm auf die Kassen. Fensterscheiben klirren", jubelte der Anstifter Goebbels. "Tausende von Menschen genießen mit Behagen dieses Schauspiel. Die Vorstellung ist abgesetzt, auch die nächste. Wir haben gewonnen."

Für Goebbels ist eine Etappe im Kampf um die Macht erreicht: "Die n.s. (nationalsozialistische) Straße diktiert der Regierung ihr Handeln." Die Zeitungsberichte liest er wie Premierenkritiken: "Die Nation steht auf unserer Seite. Also: Sieg!"

Hollywood war gegenüber dem Druck aus Nazi-Deutschland nachgiebig

Noch aber ist mit den staatlichen Organen und einer halbwegs funktionierenden Demokratie zu rechnen. Am Sonntag sieht sich das gesamte Kabinett den Film an. Zunächst wegen seiner pazifistischen Botschaft gerühmt, ist "Im Westen nichts Neues" plötzlich gefährlich. Es wird beraten und getagt und noch mal beraten, und eine Woche nach der Premiere ist der Film verboten.

"Die Oberprüfstelle hat sich die Auffassung des Sachverständigen des Reichsministeriums des Innern zu eigen gemacht, daß der vorliegende Bildstreifen nicht der Film des Krieges, sondern der Film der deutschen Niederlage ist." Die Kommission kommt zum Schluss, dass es mit der Würde eines Volkes nicht vereinbar wäre, "wenn es seine eigene Niederlage, noch dazu verfilmt durch eine ausländische Herstellungsfirma, sich vorspielen ließe". Für den Korrespondenten der amerikanischen Zeitschrift The Nation steht das Verbot für den "Anfang vom Zusammenbruch der deutschen Demokratie".

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Es dauert zwar noch gut zwei Jahre bis zur verfassungskonformen Machtergreifung durch die Nationalsozialisten, aber der antisemitische Soupçon in dem Adjektiv "ausländisch" ist bereits erkennbar. In seinem Buch über Hollywoods Nachgiebigkeit gegenüber Nazi-Deutschland bringt Ben Urwand eine zeitgenössische Karikatur, die neben der Überschrift "Muß sich ein Volk von Selbstachtung das gefallen lassen?" einen preußischen Polizisten vor einer Leinwand mit drei vermeintlich jüdischen Namen zeigt: Remarque (Autor), Ullstein (Verlag) und Laemmle (Produzent). "Vier Jahre hielt Deutschland der Welt stand", heißt es da, und jetzt, das wird nicht bloß insinuiert, muss dieses Deutschland sich den geballten Angriff der Juden gefallen lassen.

Im Angriff, der Zeitschrift der NSDAP, beginnt Goebbels den Bericht über seinen Filmkrieg mit der Demokratie mit einem Leserbrief. "Sehr geehrter Herr Doktor! [gemeint ist Dr. Joseph Goebbels] Wenn Sie es nicht fertig bringen, den Schmachfilm "Im Westen nichts Neues" abzusetzen, imponiert mir der ganze Nationalsozialismus nicht mehr. Hochachtungsvoll! I.H., eine Frontschwester." Der Redakteur Goebbels ergänzt: "Sehr verehrte Frau H.! Wir haben es fertig gebracht. Dr. G." Zehn Tage nach seinem heldenhaften Einsatz hält Goebbels im Tagebuch fest, dass sich ein "blitzsauberes Mädchen" eine Widmung für seinen "Michael" geholt habe.

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Carl Laemmle versteht nicht, was in Deutschland vorgeht. Der Film darf nur noch in geschlossener Gesellschaft gezeigt werden. Der Produzent unternimmt alles, um seinen Film in dem so wichtigen deutschen Markt freizubekommen. Es ist zwar nur ein Film, aber ein Film mit einer menschenfreundlichen, einer für die besiegten Deutschen hoffnungsvollen Botschaft: "Wo vorher Hass und Misstrauen waren, wurde den Menschen in anderen Ländern plötzlich bewusst, dass die Deutschen womöglich gar nicht als einzige für den Krieg verantwortlich waren", schreibt Laemmle für die Los Angeles Times und gleichzeitig in einem Telegramm nach Deutschland.

Laemmle wendet sich an den Verleger William Randolph Hearst, der ihn zunächst unterstützt, aber dann die Lust verliert, sich mit den Deutschen anzulegen. Im August bringt Laemmle persönlich eine vorsorglich gekürzte Fassung seines Films nach Deutschland und führt sie vor. Acht Schnitte werden vereinbart. Die Konfrontation mit dem wehrkraftertüchtigenden Lehrer entfällt; Paul Bäumer darf dessen humanistischen Lieblingsspruch nicht mehr parodieren und sagen, es sei "schmutzig und schmerzhaft, fürs Vaterland zu sterben".

Das Außenministerium ist mit dieser neuen Version einverstanden, besteht aber darauf, dass die Szenen, die beispielsweise den Drill im Kasernenhof zeigen, in allen Fassungen geschnitten werden. Konsulatsmitarbeiter in der ganzen Welt werden damit betraut, die Ausführung dieser Zensurvorschriften zu überwachen. Als sie in Paris nicht wie vereinbart umgesetzt werden, protestiert die deutsche Vertretung. In Los Angeles schreibt der Botschafter persönlich ans Hays Office, das sich immerhin gegen die Zudringlichkeit wehrt. Auch die Zuschauer in El Salvador und Mexiko sollten vor dem deutsch-amerikanischen Pazifismus bewahrt werden.

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Remarque war bereits 1932 in die Schweiz umgezogen

Das deutsche Weltfilmmarktstreben hatte da noch kein Ende. Als James Whale Remarques "Der Weg zurück", eine Fortsetzung seines Kriegsbuchs, verfilmen wollte, verlangte der deutsche Konsul wieder Schnitte. Wer in dem Film mitwirke, solle mit Einreiseverbot in Deutschland bestraft werden, der Name des Autors gar nicht erst erwähnt werden. Die Universal Studios, die Carl Laemmle in der Zwischenzeit hatte aufgeben müssen, willfahrten und nahmen auch hier die geforderten Schnitte vor. All das geschah, ehe die Nazis tatsächlich an die Macht kamen.

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Remarque war bereits 1932 in die Schweiz umgezogen. Nach der Machtergreifung wurde der Film buchstäblich ausgewiesen; die einzige verbliebene Kopie wurde nach Paris geschickt. Nichts sollte den Aufbau des neuen Wehrwillens hindern. 1939 brachte Universal den Film in einer wiederum gekürzten Version erneut ins Kino. Die Deutschen, die den Film zwar nicht sehen durften, Remarques Buch aber millionenfach gekauft hatten, zogen bereits in den nächsten Krieg.

In der neuesten Fassung fehlten 35 Minuten. Eine zusätzlich eingefügte Szene dokumentierte, wie bei der Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 auf dem Berliner Opernplatz auch "Im Westen nichts Neues", dieser "literarische Verrat am Soldaten des Ersten Weltkriegs", den Flammen übergeben wurde.

495,80 Mark Gebühren für die Hinrichtung von Remarques Schwester

Die Zensur-Geschichte ist da noch längst nicht zu Ende. 1939, als Deutschland Polen überfiel, wurde der Film als zu deutschfreundlich in Frankreich verboten und blieb es bis 1963. "Im Westen nichts Neues" erlebte als Film seine zweite Deutschland-Premiere erst 1952 und wieder in Berlin. Der Gewitterwind war glücklich vorbei, doch war inzwischen der Kalte Krieg ausgebrochen.

Remarque hatte sich bekanntlich aus der Volksgemeinschaft davongemacht und im Ausland, wie man im befreiten Deutschland recht genau wusste, mit einer anderen vaterlandsvergessenen Person, mit Marlene Dietrich, ein Verhältnis gepflogen. Als 1956 im Renaissance-Theater sein Stück "Die letzte Station" uraufgeführt wurde, beschimpften ihn die Zeitungen als "sowjetischen Befreiungsdichter". 1954 notierte Remarque in seinem Tagebuch: "Die Deutschen sind so großzügig darin, ihre Untaten zu vergessen u. indignant zu werden, wenn andere es nicht wollen."

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Robert Martin Eltner war 19, als der Erste Weltkrieg ausbrach. Als Medizintechniker verrichtete er seinen Dienst hinter der Front - und inszenierte seine Fotos auf teilweise bizarre Art. Seine Enkelin zeigt die Aufnahmen nun erstmals der Öffentlichkeit.

Zur Geschichte von "Im Westen nichts Neues" gehört nämlich auch der Tod von Remarques Schwester. Die Damenschneiderin Elfriede Scholz lebte in Dresden und war mit einem Musiker verheiratet. Eine Nachbarin denunzierte sie, und 1943 wurde sie vom Volksgerichtshof wegen Wehrkraftzersetzung zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Für diesen Vorgang (Aktenzeichen 1 J 580/43) wurden nach § 49 und § 52 d GKG folgende Gebühren fällig:

Für Todesstrafe: 300,- Mark

Vollstreckung: 122,18

Haftverpflegung : 73,50

Porto für Übersendung der Kostenrechnung: 0,12

Die Gesamtkosten von M 495,80 waren "binnen einer Woche" auf das Postscheckkonto Berlin 34564 zu überweisen.

Remarque erfuhr erst 1946, dass seine Schwester jenem Dritten Reich zum Opfer gefallen war, das seiner nicht mehr habhaft werden und nur die bösen Bücher verbrennen konnte. Robert Kempner, bis 1933 Mitarbeiter im Preußischen Innenministerium, das sich im Dezember 1930 als so machtlos im Kampf gegen die nationalsozialistische Straße gezeigt hatte, Kempner, der als Jude und Hitler-Gegner in die Emigration gezwungen wurde und beim Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher die Anklage vertrat, versuchte im Auftrag Remarques, die an dem Justizmord Beteiligten zu belangen.

Am 25. September 1970, am Tag, als der Osnabrücker Erich Maria Remarque in der Schweiz stirbt, wird Kempner mitgeteilt, dass das Verfahren eingestellt worden sei.

© SZ vom 22.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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