"Auf das köstlichs beklaidet" seien die Zuschauer der Antwerpener Liebfrauenprozession gewesen, notiert Albrecht Dürer am 2. August 1520 in sein Rechnungsbuch. Dürer ist beeindruckt von der Länge der Kerzen, der Pracht des Umzugs mit Trommeln und Posaunen, bei dem die "gancze statt" dabei gewesen sei. Drei Wochen zuvor war Dürer in Begleitung seiner Frau Agnes und der Magd Susanna in der flämischen Metropole eingetroffen. Diese sollte während des Jahres, das er im Rheinland und in den Niederlanden verbringen würde, seine Basis werden.
Dürer reiste viel, besonders gemessen an den Maßstäben seiner Zeit. Doch die Tour ins Rheinland und in die Niederlande vom Sommer 1520 bis Herbst 1521 hatte einen konkreten finanziellen Anlass: Kaiser Maximilian I. war 1519 gestorben. Damit war es unklar, ob die jährliche Leibrente von 100 rheinischen Gulden, welche die Stadt Nürnberg im Auftrag des Kaisers an den damals 49-Jährigen zahlte, weiter überwiesen werden würde. Am 23. Oktober 1520 stand die Krönung von Maximilians Nachfolger Karl V. in Aachen an. Dürer wollte dabei sein und sicherstellen, dass die kaiserliche Zuwendung erneuert wurde.
Im vergangenen Oktober jährte sich Dürers Besuch in Aachen zum 500. Mal. Pünktlich sollte damals die Ausstellung "Dürer war hier" im Suermondt-Ludwig-Museum starten. Der Lockdown verhinderte das. An diesem Sonntag findet nun doch noch die festliche Eröffnung statt, das Publikum hat von Dienstag an Zutritt. Und eines wird bei der Begehung dieser großartigen Schau mit ihren mehr als 190 Exponaten sehr schnell klar: Die Verzögerung hat dem spektakulären Projekt, das im November in die Londoner National Gallery weiterreisen soll, nichts von seiner Monumentalität genommen.
Ein Bett in Brüssel für 50 Menschen nebeneinander
"Dürer war hier" ist weit mehr als eine Werkschau. Hier wird umfassend von Dürers Reise berichtet, seiner Interaktion mit Zeitgenossen, von seinen vielfältigen Interessen und dem Einfluss, den seine Arbeit auf seine Nachfolger hatte. Die Aachener Schau eröffnet daher auch mit dem anonymen Totenbildnis Kaiser Maximilians I., das aus dem Grazer Joanneum entliehen wurde - gleichsam die Verbildlichung des Reiseanlasses. Anhand von Korrespondenzen und Zitaten aus der zeitgenössischen Abschrift des (verlorenen) Original-Rechnungsbuches, das Dürer wie ein Tagebuch führte, wird erlebbar, mit welcher Energie dieser Maler alles verarbeitete, was er zu Gesicht bekam - und wie sehr sein wirtschaftliches Talent mit seinem künstlerischen Hand in Hand ging.
Von der Malerzunft in Antwerpen, das seine Basis bildete, am 5. August mit allen Ehren empfangen, machte Dürer diverse Abstecher, unter anderem nach Mechelen, Brüssel, Zeeland, Gent und Köln. Minutiös hält er Ausgaben und Einnahmen fest, erwähnt aber auch immer wieder Interessantes und Kurioses, wie die Liebfrauenprozession oder ein Brüsseler Bett, in dem angeblich 50 Menschen nebeneinander schlafen konnten. Er trifft bedeutende Zeitgenossen wie Erasmus von Rotterdam und berühmte Kollegen wie Quinten Massys, dessen Stil ihn beeinflusste. Und er zeichnet, unermüdlich.
Man könnte mit einiger Berechtigung argumentieren, dass die mehr als 50 Zeichnungen, die aus diversen Sammlungen zusammengetragen wurden, das eigentliche Highlight dieser Ausstellung darstellen. Dabei ist es ein Glück, dass so viele dieser exquisiten Tinten-, Kohle-, Kreide- und Silberstiftarbeiten erhalten sind. Dürer dokumentiert 140 Zeichnungen, "über die Dunkelziffer dort nicht erwähnter Arbeiten und die tatsächliche Verlustrate kann nicht einmal gemutmaßt werden", wie es Albertina-Chefkurator Christof Metzger in seinem Beitrag zum magistralen, 679 Seiten umfassenden Katalog formuliert.
Auch eins der ersten europäischen Porträts einer schwarzen Frau stammt von Dürer
Es sind zutiefst persönliche Porträts dabei, wie das Konterfei des kaiserlichen Hauptmanns Felix Hungersperg. Der Maler war mit Hungersperg befreundet, der laut einer Notiz am Rande ein "köstlich lavtenschlaher" war, also ein virtuoser Lautenist. Das offenbar im Kampf verletzte linke Auge des Soldaten starrt erblindet nach oben, der übrige Ausdruck des Gesichts signalisiert, dass man einen selbstsicheren, in sich ruhenden Mann vor sich hat. Nicht weniger eindringlich ist die Silberstiftzeichnung einer 20-jährigen Afrikanerin namens Katharina, die als eines der ersten personalisierten Porträts einer schwarzen Frau in der europäischen Kunstgeschichte gelten darf. Die Leichtigkeit und Exaktheit der Schraffur, die Zärtlichkeit des Ausdrucks sind von nicht zu steigernder Qualität.
Albrecht Dürer zeigt unterschiedslos Interesse an allem, das ihm begegnet, seien es Architektur (das Oktogon des Aachener Münsters, das er vom Krönungssaal aus in Silberstift auf Bütten festhielt), Mode (Frauen in niederländischer und livländischer Tracht) oder Tieren (das berühmte Walross-"Porträt" aus dem British Museum, das er von einem Teppich abzeichnete). Auch wenn man sich vor Anachronismen hüten sollte: Als Betrachter hat man das Gefühl, ihm näher kommen zu können als jedem anderen Künstler seiner Epoche.
Die Ausstellung dokumentiert, wie rasch Dürer sich in die betuchtesten Antwerpener Kreise einführte. Unter anderem knüpfte er Kontakte zum portugiesischen Handelshaus Feitoria de Flandres und fertigte diverse große Auftragsporträts an. Eine besonders beeindruckende Leihe ist Suermondt-Ludwig-Direktor und Chefkurator Peter van den Brink hier mit dem Brustbild eines Mannes aus dem Bostoner Isabella Stewart Gardner Museum gelungen. Der ernste Mann mit Fellkragen und Barett, wahrscheinlich der portugiesische Konsul in Flandern, Rui Fernandes de Almada, hat die USA seit seiner Akquise 1902 nicht mehr verlassen.
Auch "Hieronymus im Studierzimmer" schaffte es, aus Portugal herzukommen
Dass solche Werke trotz pandemischer Erschwernisse hierhergefunden haben, ist schon für sich genommen bemerkenswert - die ganze Unternehmung mit unzähligen hochkarätigen Leihgebern, darunter die Uffizien, der Louvre und das New Yorker Metropolitan Museum of Art, wirkt wie ein wunderschöner Anachronismus. Der "Heilige Hieronymus im Studierzimmer" aus Lissabon erreichte Aachen erst am vergangenen Donnerstag. Aufgrund der rapide steigenden Inzidenzzahlen in Portugal stand die Leihe vom Museu Nacional de Arte Antiga bis zum Schluss auf der Kippe.
Es wäre ein herber Verlust gewesen, denn der Hieronymus ist das vielleicht bedeutendste, sicher aber einflussreichste Gemälde, das während der Reise entstand, ein überaus großzügiges Geschenk Dürers an seinen Förderer Almada. Das tief zerfurchte Antlitz des Heiligen basiert auf einer Antwerpener Porträtsitzung mit einem 93-jährigen Mann im Januar 1521. Dürer verzichtet auf die Beigabe von Bußsymbolen, lediglich das traditionelle Memento mori eines Totenschädels genügt der motivischen Konvention. In Aachen ist dem Bild ein eigener Raum gewidmet, in dem die zahlreichen niederländischen Nachfolger wie Lucas van Leyden und Marinus van Reymerswaele dem Vorbild gegenübergestellt sind - ein Vergleich, der vor allem eindringlich vor Augen führt, welch ein Meisterwerk Dürers eigenes Gemälde darstellt.
Sein erklärtes Ziel erreichte Albrecht Dürer übrigens: Kaiser Karl bestätigte seine Leibrente. Dürer wurde von seinen Antwerpener Gönnern reich beschenkt, von den Kollegen hoch verehrt, und überall, wo er hinkam, als veritabler Star mit Banketten und Weingeschenken empfangen. Allerdings kehrte er aus Zeeland auch mit einer "kranckheit" zurück, "von derer ich nie von keinem man gehört, und diese kranckheit hab ich noch". Selbst ein solches Detail - die Gefahr für die Gesundheit, die dem Reisen innewohnt - trägt in Aachen dazu bei, Dürer dem heutigen Betrachter nicht nur als Künstler, sondern auch als Individuum nahezubringen.
"Dürer war hier - Eine Reise wird Legende" im Suermondt-Ludwig-Museum Aachen, bis 24.10. www.duerer.2020.de, Katalog 35 Euro