Filmfestspiele von Venedig:Sprungbrett für die Oscars

Lesezeit: 4 min

Beste Hauptdarstellerin in Venedig: Cailee Spaeny in Sofia Coppolas Film über Priscilla Presley mit Jacob Elordi als Elvis. (Foto: Philippe Le Sourd/picture alliance / ASSOCIATED PR)

So viele großartige Filme in einem Sommer: Die Filmfestspiele von Venedig zeigen, dass es dem Kino trotz Hollywood-Streiks und Streaming-Ärgers sehr gut geht.

Von Susan Vahabzadeh

Wenn zwanzig Filme gegeneinander antreten, lernt man im Idealfall ein wenig über die Welt. Auf jeden Fall lernt man etwas über den Zustand des Kinos. Manches davon bleibt ein bisschen mysteriös, warum beispielsweise allerlei Filme aus unterschiedlichen Ecken der Welt im Wettbewerb der 80. Filmfestspiele von Venedig, von Agnieszka Hollands "Green Border" über Bradley Coopers "Maestro" und Pablo Larrains "El Conde" bis zu Timm Krögers "Die Theorie von allem", ganz oder in Teilen in Schwarz-Weiß gedreht wurden. Es hat in allen Fällen gepasst, aber warum diese Häufung? Am Ende dieses Wettbewerbs ist jedenfalls klar: Wenn noch eine solche Reihung großartiger Filme in einem einzigen Sommer möglich ist, kann es dem Kino nicht ganz schlecht gehen. Dem Festival sind durch den Streik zwar die meisten Stars für den roten Teppich abhandengekommen, aber das war dann gar nicht so wichtig.

Der Favorit war schon nach ein paar Tagen "Poor Things" von Yorgos Lanthimos. Was draußen geliebt wird, gefällt nicht immer der Jury. Die diesjährige, besetzt unter anderem mit Damien Chazelle und Laura Poitras und Jane Campion und Mia Hansen Love, hat ihn trotzdem gekürt. Man könnte sagen: Sie waren mit dem Kopf in der Welt unterwegs und mit dem Herzen beim Kino. "Poor Things" hat am Samstagabend den Hauptpreis bekommen, den Goldenen Löwen, und das dürfte nur der Anfang sein. Emma Stone spielt darin Bella, die sich der verrückte Dr. Baxter (Willem Dafoe) aus dem Körper einer Selbstmörderin und dem Hirn eines Kindes gebastelt hat, und die dann allen Männern, die sie formen wollen, auf der Nase herumtanzt. Es ist ihr Film, sagte Lanthimos bei der Preisverleihung. Die feministische Frankenstein-Fantasie, die er da geschaffen hat, gehört natürlich trotzdem auch ein wenig ihm.

Ein Publikumsliebling als Film des Jahres: Yorgos Lanthimos mit seinem Goldenen Löwen für "Poor Things". (Foto: Pascal Le Segretain/Getty Images)

Venedig ist damit seinem Ruf gerecht geworden, das Festival zu sein, an dem die meisten Oscar-Anwärter ihre Premieren feiern. Außer "Poor Things" gilt das vor allem auch für Michael Manns "Ferrari" mit Adam Driver und Penelope Cruz. Der Silberne Löwe ging an einen Oscar-Sieger aus dem vergangenen Jahr. 2022 wurde der Japaner Ryusuke Hamaguchi für seinen Film "Drive My Car" ausgezeichnet. Jetzt hat er in Venedig mit "Evil Does Not Exist" wohlverdient den zweiten Platz bekommen. Es geht da um ein kleines Dorf auf dem Land, in dem die Menschen sehr eins sind mit der Natur, bis dann Leute von einer Firma aus Tokio auftauchen, die dort einen Luxus-Campingplatz aufmachen wollen. Im Zentrum stehen ein alleinerziehender Vater und seine kleine Tochter, für die er die Wälder und Wiesen gerne erhalten würde. "Evil Does Not Exist" ist ein politischer Film, aber mit so viel Sorgfalt und Hingabe gestaltet, dass jede Einstellung für sich bestehen könnte. Poetischer als Hamaguchi hat wohl noch kein Filmemacher inszeniert, wie er den Spätkapitalismus satthat.

Hamaguchi sucht die große Politik buchstäblich an den Graswurzeln. Da waren die beiden großen Flüchtlingsepen im Wettbewerb schon plakativer, und dass sie beide mit Preisen bedacht wurden, ist von der Jury sicher auch politisch gemeint. Der Regiepreis ging an einen der italienischen Wettbewerbsbeiträge, "Io Capitano" von Matteo Garrone ("Gomorrah"), der zwei Jungen aus dem Senegal folgt, die sich gegen alle guten Ratschläge auf den Weg nach Europa machen und erst mal nur im Internierungslager landen. Den Spezialpreis der Jury bekam "Green Border" von Agnieszka Holland. Ihr Film spielt an der Grenze zwischen Polen und Belarus, nicht nur unter Flüchtlingen, sondern auch unter den Aktivisten, die bereit sind, ihnen gegen jeden Widerstand zu helfen. Denen hat sie dann auch ihren Preis gewidmet. Im Film haben sie viel damit zu tun, dass man diese fürchterliche Geschichte, bei der mit Menschen ein politisches, oft tödliches Spiel betrieben wird, besser aushält als Garrones Film: Sie hat ein wenig Licht zwischen den Schatten gefunden. Es ist ein bisschen schade, dass nicht noch mehr drin war für "Green Border", denn Agnieszka Holland hält der Europäischen Union recht gnadenlos einen Spiegel vor.

Nicht alle Filme aus den USA sind vom Streik betroffen

Und es ist ja auch ein wenig so, dass es am Ende trotz der streikbedingten Abwesenheiten ein amerikanisch dominiertes Festival war. "Poor Things" ist ein mit amerikanischen Darstellern, Hauptdarstellern und amerikanischem Geld in Großbritannien produzierter Film, Pablo Larrains Pinochet-Vampirfilm "El Conde", der fürs beste Drehbuch ausgezeichnet wurde, ist ein Netflix-Film, und auch die beiden Darstellerpreise gingen an US-Schauspieler. Für die streikenden Autoren und Schauspieler in den USA ist das ganz gut. Die Strategie, den Schauspielern aus unabhängigen Produktionen den Auftritt beim Festival zu erlauben, obwohl sie eigentlich bis zum Ende der Verhandlungen keine Werbung für Filme machen sollen, ist aufgegangen.

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Auch für Cailee Spaeny, die die Coppa Volpi für die beste Darstellerin bekam. Die spielt in Sofia Coppolas "Priscilla" die junge Priscilla Beaulieu Presley, die noch ein Kind ist, als sie den großen Elvis kennenlernt, heiratet, und sich dann, ganz unaufgeregt und langsam, in einen erwachsenen Menschen verwandelt, der auf das Rockstar-Leben dankend verzichtet. Sie hat das nicht schlecht gemacht, aber eigentlich hätte der Preis wohl Jessica Chastain zugestanden für "Memory", für den ihr Co-Star Peter Sarsgaard, völlig zu Recht, den Preis für den besten männlichen Darsteller bekommen hat. Beide waren angereist, wie auch Spaeny, die Filme waren von den Gewerkschaftsauflagen befreit. "Memory" von Michel Franco ist ein unabhängig produzierter Film, der vom Streik der US-Schauspieler und Autoren nicht betroffen ist. Francos Film spielt zwar in New York, er selbst ist aber Mexikaner.

In "Memory" geht es um einen grausam unter den Teppich gekehrten Kindsmissbrauch. Jessica Chastain spielt eine Frau, der jedes Gefühl für Sicherheit fehlt. Sie begegnet einem Mann (Peter Sarsgaard), in dem sie zunächst einen früheren Peiniger erkannt zu haben glaubt. Das stimmt nicht, und sie verliebt sich in ihn, obwohl oder vielleicht auch weil er an Demenz leidet. Franco lässt da verschiedene Arten von Vergessen, Verdrängen und falscher Erinnerung aufeinandertreffen und verwebt sie zu einer anrührenden Geschichte, die Jessica Chastain und Peter Sarsgaard zu einem großartigen Film machen. Auch "Memory" gehört sicher zu den Filmen, die bei den Oscars eine Rolle spielen werden. Aber es gibt Schlimmeres über ein Festival zu sagen, als dass es ein Oscar-Sprungbrett ist.

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