Wer gehört zur Mitte Europas und wer zur östlichen Peripherie, das scheint die Grundsatz-Frage zu sein, um die im derzeitigen Konflikt in der Ukraine gerungen wird. Dem goEast-Filmfestival in Wiesbaden gab dieses aktuelle Kernproblem in diesem Jahr eine besonders passende und politisch brisante Programmatik, legte diese Filmschau doch schon immer auf die Unterscheidung zwischen der Mitte und dem Osten des Kontinents Wert, allein schon in der langen Version ihres Namens. Und tatsächlich vermittelte das "Festival des mittel- und osteuropäischen Films" bei seiner 14. Austragung ein Gefühl dafür, worin denn dieser Unterschied zwischen Mittel- und Osteuropa bestehen könnte.
Und das ist viel widersprüchlicher als es die westliche Sicht in ihrer platten Form erscheinen lässt, die da lautet: Die Mitte ist der Reichtum und die Zivilisation, der Osten ist die Armut und die Rückständigkeit. So, oder so ähnlich, wird es sogar im Osten Europas häufig gesehen.
Doch wie ist es wirklich? Das lässt sich gerade an den Schnittstellen Europas erkennen, etwa in Ungarn. Mit seiner geografischen Lage aber auch mit seiner Vergangenheit als Teil des Habsburgerreiches ist der EU-Staat eindeutig als mitteleuropäisches Land zu begreifen, das nichtsdestotrotz in den vergangenen Jahren mit einigen Entwicklungen auffiel, die im Westen als typisch "osteuropäisch" wahrgenommen werden: Beschneidung der Pressefreiheit und von Bürgerrechten, ein autokratisch auftretender Regierungschef sowie die fehlende Toleranz gegenüber Minderheiten wie etwa den Roma.
Und doch können nicht alle Bemühungen umsonst gewesen sein, Ungarn zu einer Demokratie und zu einem Rechtsstaat zu formen. Das zumindest legte bei goEast die Dokumentation "Urteil in Ungarn" von Eszter Hajdú nahe. In ihrem Film begleitete die Regisseurin das Gerichtsverfahren gegen vier rechtsradikale Angeklagte, die in den Jahren 2008 und 2009 sechs Roma aus rein rassistischen Motiven heraus ermordet haben sollen.
Der Fall erregte in Ungarn ähnlich große Aufmerksamkeit wie der NSU-Prozess hierzulande und weist auch ansonsten einige Parallelen auf. Anders als in Deutschland sind in Ungarn Filmaufnahmen in Gerichtsprozessen gestattet, was es Hajdú ermöglichte, das gesamte Verfahren in seiner zweieinhalbjährigen Dauer in ihrer Doku zu verdichten - eine Mammutaufgabe.
Doch es hat sich gelohnt, diese Herausforderung anzunehmen: Zu sehen bekommt der Zuschauer zwar sehr harte Kost, die ihm in Form der kaltblütig kalkulierenden Angeklagten und der häufig am Rande des Nervenzusammenbruchs stehenden Opfer-Angehörigen einiges über die tief sitzenden Ressentiments gegenüber Roma in Ungarn erzählt. Doch der Zuschauer bekommt eben auch den sehr klaren Eindruck, dass hier der Richter und seine Beisitzer trotz aller Zumutungen bis zuletzt um das Recht ringen, und das Verfahren stets penibel korrekt abläuft. Die Polizisten, denen erhebliche Unterlassungen bei der Verfolgung der Täter vorgeworfen wurden, watscht der Richter verbal in einer Weise ab, die jeden Verdacht im Keim erstickt, hier könne die Staatsräson nur eine Sekunde lang über das Recht gestellt werden.
Zu Tätern gemacht
Wie ein Schock wirkte in Wiesbaden im Kontrast dazu die Doku "Zelims Bekenntnis" von Natalia Mikhaylova, die von der Odysee eines jungen Muslims durch verschiedene Polizeistationen und Arrestzellen in Inguschetien berichtet, einer jener in Terrorangst gefangenen russischen Kaukasusrepubliken. Nur weil der Zwanzigjährige zur falschen Zeit am falschen Ort war, folterten ihn die inguschetischen und russischen Behörden fast zu Tode.
Allein Zelims sachliche Auflistung dessen, was ihm angetan wurde, ist kaum zu ertragen. Doch noch erschütternder ist für den Zuschauer die schleichende Erkenntnis, dass es hier gar nicht so sehr um die russische Version eines Kriegs gegen den Terror geht, bei der fataler Weise ein Unschuldiger ins Netz der Polizei geriet. Sondern, dass Zelims Geschichte einen ganz normalen Vorgang im korrupten System der russischen Strafverfolgung darstellt. Hier werden Unschuldige systematisch mit erpressten Geständnissen zu Tätern gemacht, damit Beamte geklärte Fälle vorweisen und sich einen Bonus verdienen können. In den Kaukasusrepubliken sei dieses System besonders stark ausgeprägt, sagte Mikayhlova in Wiesbaden, doch "die Polizei foltert in ganz Russland".
Folter als gängiges Ermittlungsmittel der Polizei! Das ist ein Vorwurf, der die zivilisatorische Entwicklung Russlands sehr deutlich in Frage stellt. Ist der Osten also doch nur Barbarei? Einen Beleg für diese These lieferte goEast mit "Zelims Bekenntnis" ohne Zweifel, und doch zeigte sich in Wiesbaden auch, dass sich die volle Realität in dem Land nicht allein durch die dortige Menschenrechts- und Rechtsstaatsproblematik beschreiben lässt. Vielmehr wirkte Russland in den diesjährigen goEast-Filmen von dort reicher, moderner und bunter als es der Diskurs im Westen suggeriert.
Yusup Razykovs Drama "Schande", das lose an der realen Tragödie vom Untergang des russischen Atom-U-Boots Kursk aufgehängt ist, hatte in seiner Grundkonstellation zwar durchaus die bekannt menschenverachtende Staatsräson in Russland zum Hintergrund. Bei der Katastrophe verloren vor knapp 14 Jahren 118 Matrosen ihr Leben, nachdem sich die russische Regierung erst spät dazu durchgerungen hatte, westliche Hilfe bei der Bergung des Riesen-Tauchboots in Anspruch zu nehmen.
Diesen sturen und falschen Stolz zeigt Razykov an seiner empathieunfähigen Hauptfigur Lena (Maria Semenova), die sich durch ihre Weigerung, um die verunglückten Seeleute zu trauern, aber gleichzeitig von ihrem patriarchalisch geprägten Umfeld distanziert. Im Kern geht es Razykov in "Schande" um die Rolle der Frau in der Gesellschaft - einem Thema, das russische Filme in den vergangenen Jahren häufig aufgegriffen haben (etwa Dunja Smirnowas "Kokoko" oder Andrey Zvyagintsevs "Elena") und damit in eine Debatte einsteigen, die auch in der Mitte Europas geführt wird.
Russland ist aber auch ein Land der Extreme, alleine wegen der klimatischen Verhältnisse in seinem hohen Norden. Wie Menschen reagieren, die diesen extremen Bedingungen ausgesetzt sind, zeigte Natalia Meshchaninova in ihrem Drama "Fabrik der Hoffnung", das in Norilsk spielt, der am nördlichsten gelegenen Großstadt der Welt im mittelsibirischen Bergland. Und obwohl die Regisseurin ein schonungsloses Bild zeichnet, zeigt sie doch eine Welt, in der auch die titelgebende Hoffnung spürbar wird.
Alternative Lebensentwürfe im Putinismus
Wie moderne russische Subversion funktioniert, führte in Wiesbaden Aliona Polunina vor, die in ihrer Doku "Nepal Forever" zwei St. Petersburger Aussteiger porträtierte, die in einer abstrusen Splitterpartei zu Mandat und Auskommen gelangt sind. Die Doku wirkt wie eine Komödie, zeigt vor allem aber, dass in Russland alternative Lebensentwürfe in kurioser Form möglich sind, was nicht unbedingt das ist, was man vom Putinismus erwartet.
Von der derzeitigen Kreml-Führung verspricht man sich allerdings auch nicht das Eingeständnis eigener historischer Schuld, wie sie durch den Stalinismus gegeben wäre. In dem Fall zu Recht. Vielmehr machten bei goEast vor allem die mitteleuropäischen Regisseure die Aufarbeitung der dunklen Kapitel in der eigenen Geschichte zu ihrem Thema. Und wurden dafür honoriert: Die Jury unter dem Produzenten Jan Harlan gewährte Andrei Gruzsniczki für "Quod erat demonstrandum" eine lobende Erwähnung für eine kluge Abrechnung mit der Securitate, dem gefürchteten Geheimdienst im Rumänien Ceaușescus. Der Hauptpreis für den besten Film ging an das polnische Weltkriegsdrama "Ida", das sich mit der Mitschuld polnischer Kollaborateure am NS-Holocaust in den Vierzigerjahren auseinandersetzt und in den Feuilletons gerade viel Lob für dieses Stück Vergangenheitsbewältigung bekommt.
Kurzkritiken zu den Kinostarts der Woche:Heidi-Kitsch und Liebesqualen
"Die schwarzen Brüder" mit Moritz Bleibtreu kommt als Heidi-Kitsch mit Gruselmomenten daher und "The Amazing Spider-Man 2" erleidet mehr Qualen durch seine Freundin als durch Bösewichte. Für welche Filme sich der Kinobesuch lohnt - und für welche nicht.
Und Eszter Hajdú? Die blies ins gleiche Horn, als sie für ihre akribische Langzeit-Doku "Urteil in Ungarn" völlig zu Recht den Dokumentarfilmpreis der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" zuerkannt bekam: Dieser Preis sei ihr wichtig, sagte die Ungarin in ihrer Dankesrede, weil er ihr in Deutschland verliehen worden sei - einem Land, das sich seiner historischen Schuld gestellt habe.
Der Besuch des goEast-Festivals wurde teilweise vom Veranstalter unterstützt.