Leserbriefe:Eine Premiere, die viele Fragen aufwirft

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Im kleinen Landkreis Sonneberg in Thüringen wird AfD-Kandidat Robert Sesselmann zum Landrat gewählt. Erklärungsversuche von SZ-Lesern.

"Anerkennungsverluste gehen an die Substanz" vom 10. Juli, "Es bröckelt schon" vom 7. Juli, "Demokratie ratlos" vom 5. Juni, "Verbot? Verbot!" vom 1./2. Juli, "Suche nach den Schuldigen" und "Menetekel" beide vom 27. Juni:

In Sorge um die Republik

Es ist so gekommen, wie es viele Beobachter befürchtet haben. Die Wahl des ersten Landrats der AfD ist eine Katastrophe. Mit der Wahl des Kandidaten Robert Sesselmann im thüringischen Landkreis Sonneberg zeigt sich, wie wenig gefestigt die Demokratie unter vielen Bundesbürgern, nicht nur im Osten, ist.

Inhaltlich hatte der AfD-Kandidat nichts zu bieten, und dennoch bekam er eine Mehrheit für rechtspopulistische und rechtsextreme Parolen, Ausländerhass und Minderheitenfeindlichkeit. Es ist höchste Zeit, dass sich die demokratischen Parteien Gedanken darüber machen, ob angesichts der zunehmenden Gefahr durch die Gruppierung AfD ein Verbotsantrag beim Bundesverfassungsgericht eingereicht werden sollte.

Die AfD, die in Thüringen vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextremistisch eingestuft wird, ist so gefährlich, dass man sich an den Beginn des düstersten Kapitels in der deutschen Geschichte erinnert fühlt. Den Aktivitäten der antidemokratischen AfD muss spätestens jetzt ein Riegel vorgeschoben werden. Der rechte Dammbruch in dieser Republik ist vollzogen, und man muss sich fragen, ob die Deutschen jemals aus der Geschichte die Lehren ziehen werden. Ich bin in größter Sorge um diese Republik.

Manfred Kirsch, Neuwied

Kommunikation abgerissen

Auffällig ist, dass die Wähler selbst und ihre Motive, im Artikel nicht vorkommen. Die 52,8 Prozent, die Sesselmann gewählt haben, sind sicher mehrheitlich keine Nazis.

Vor ein paar Jahren schrieb der damalige AfD-Kreisschriftführer Biberach sinngemäß: "Die Leute wählen uns nicht wegen des guten Programms oder der mitreißenden Personen, sondern weil sie sich nicht anders zu helfen wissen." Mit anderen Worten, weil aus ihrer Sicht die Kommunikation abgerissen ist. Ein ganz starker Kommunikations-Stopper ist die Gender-Sprache. Hier sollten wir dringend das gewohnte Ritual hinterfragen.

Gerhard Nehmiz, Biberach

Zurückhaltung bei Stichwahlen

Was ich geahnt hatte, ist eingetreten. Angesichts der Tatsache, dass der AfD-Kandidat im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit recht knapp verpasst hatte, war es nämlich politisch fahrlässig, dass die anderen Parteien zur Wahl des Zweitplatzierten aufriefen, den zu erfolgreichen AfD-Kandidaten gegen eine geschlossene Phalanx anrennen ließen und damit den klischeehaften Eindruck einer nicht koscheren Absprache vermittelten.

Dass die Wahlbeteiligung nach 49,1 Prozent im ersten Durchgang auf 59,6 Prozent stieg, zeigt doch, dass noch Zaudernde im Sinne eines "jetzt erst recht" handelten und doch noch wählen gingen. Wahlempfehlungen sind in Ordnung, wenn der Vorsprung des Erstplatzierten für die Stichwahl nicht beeindruckend ist, aber bei einem derartigen Vorsprung ist Zurückhaltung mit Sicherheit zielführender.

Siegfried Kowallek, Neuwied

Zweitkleinster Landkreis

In Thüringen gab es seit 1930 eine Regierungsbeteiligung der NSDAP, die erste im Reich, und ab 1932 gab es dort sogar eine NSDAP-geführte Landesregierung. Es ist bei dieser Geschichte nicht verwunderlich, dass es jetzt in Thüringen den ersten AfD-Landrat gibt.

Rein statistisch betrachtet kommen derartige Extremereignisse in kleinen Kreisen öfters vor als in großen, wo es in anderen Kreisteilen andere Ergebnisse gibt. Der Kreis Sonneberg ist mit 56 000 Einwohnern der kleinste in Thüringen und der zweitkleinste in Deutschland.

Wochenlang hat die FDP sich als Klimaschutzskeptikerin wirkungsvoll dargestellt, um ihre Wahlchancen zum Beispiel in Bayern und Hessen zu erhöhen. Den Sonneberger Wählern wurden so die Nachteile der Klimaschutzpolitik bewusster, sodass sie verstärkt die Original-Klimaschutzgegner, die AfD wählten. Die Klimaschutz-Skepsis gereicht zum Nachteil der Kinder und Enkel der Sonneberger.

Wolfgang Maucksch, Herrieden

Sag's mit Voltaire

Wenn rund 20 Prozent der Wahlbevölkerung aus Sicht Heribert Prantls falsch wählen, soll die wehrhafte Demokratie gefordert sein und ein Verbot der AfD muss her. Es ist doch nahezu unverschämt, dass die Bürgerinnen und Bürger bei einer Ablehnung der Regierungspolitik und der zahmen Oppositionspartei nicht - wie so oft in der Vergangenheit - einfach zu Hause bleiben, und ihre Stimmen damit faktisch den etablierten Parteien zugutekommen, die über die geringe Wahlbeteiligung ein paar Tränen verlieren, aber doch eigentlich damit exzellent leben können. Also: Parteiverbot!

Die Demokratie muss sich wehren. Aber muss sie sich nicht vielmehr dagegen wehren, dass der politische Diskurs durch ein Verbot ersetzt werden soll? Die Norm des Art. 21 Abs. 2 GG ist als "demokratieverkürzende Ausnahmenorm" eng auszulegen, und ein Parteiverbot steht immer in einem Spannungsverhältnis zur politischen Meinungsfreiheit "als einem der vornehmsten Rechtsgüter der freiheitlichen Demokratie", wie es bei Leibholz/Rinck, einem der führenden Grundgesetz-Kommentare in Deutschland, heißt.

Deshalb werden für ein Parteiverbot neben einer qualifizierten Mehrheit der Mitglieder des Senats des BVerfG auch eine "Staatsgefährlichkeit", eine aktiv kämpferische, aggressive Grundhaltung gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung und das Ziel der Partei, mindestens eines der Wesenselemente der Demokratie abschaffen zu wollen, gefordert.

Man muss die AfD nicht mögen oder gar wählen, aber ihr - und damit auch ihren Wählerinnen und Wählern - eine derartige Staatsgefährlichkeit unterstellen zu wollen, ist nichts anderes als der Populismus der AfD an anderer Stelle, nur vom anderen Rand des Spektrums aus. Für die Prantlsche Gleichsetzung von NPD und AfD - "die AfD ist gefährlicher, als es die NPD je war" - ist verfassungsrechtlich nichts erkennbar. Vielleicht ist von Prantl aber auch in Wirklichkeit die Gefahr für das bestehende Machtgefüge gemeint.

Machterhalt ist indes kein Kriterium eines Parteiverbotsverfahrens. Dass überraschenderweise ein derartiges Verbot die AfD-Wählenden mit ihren Meinungen ja auch nicht auf den Mond beamt und vielmehr sogar Wasser auf die Mühlen derjenigen wäre, die das politische System in Deutschland als auf Konservierung des Establishments ausgelegt ansehen, kommt dazu.

Und dass das deutsche Verfassungsrecht überhaupt nicht die von Prantl als ersten Schritt gewünschte Möglichkeit des Verbots des Thüringer Landesverbandes der AfD vorsieht, zeigt, dass es in seinem Beitrag nicht um Recht, sondern um Ausgrenzung statt Diskurs geht. Das ist gefährlich für die Demokratie, die - egal ob man das Zitat Voltaire oder seiner Biografin zuschreibt - nach dem Satz funktioniert: "Ich hasse, was Du sagst, aber ich würde mein Leben dafür geben, dass Du es sagen darfst!"

Prof. Dr. Gert Armin Neuhäuser, Rinteln

Mehr journalistischer Pluralismus

Das Interview mit Wilhelm Heitmeyer ist einer der seltenen Versuche, das Phänomen AfD rational zu erklären und Ansatzpunkte für wirksame Gegenmaßnahmen zu entwickeln. Ich stimme insbesondere dem Punkt zu, dass es nicht adressierte Anerkennungsbedürfnisse einer breiten Schicht der Bevölkerung gibt, die den Zulauf zur AfD quasi füttern. Zwei Punkte scheinen mir besonders wichtig.

Es ist meiner Meinung nach ein Fehler, die AfD und deren Anhänger als rechtsextrem zu brandmarken. Es bleibt unklar, was das konkret bedeutet, dient aber als absolutes Ausgrenzungsargument gegen alles, was von der AfD kommt, beziehungsweise was die Leute dazu bewegt, Affinitäten zur AfD zu entwickeln. Eine inhaltliche Auseinandersetzung muss deshalb bequemerweise nicht stattfinden. Die Probleme gehen damit aber auch nicht weg. Ich denke, wenn man die AfD zum Beispiel als eine nationalsozialistische Bewegung bezeichnen würde, würde man sich viel tiefgehender mit deren Zielen und Programmen auseinandersetzen müssen.

Die Nichtanerkennung der Bedürfnisse der AfD-Anhänger hängt sehr stark mit den oligopolistischen Strukturen auf dem Medienmarkt zusammen. Nur zum Vergleich - die Grünen repräsentieren rund 20 Prozent der Bevölkerung. Ihre Meinungen und Standpunkte finden sich aber in geschätzten 80 Prozent der veröffentlichten Meinungen wieder. Die AfD hat eine vergleichbare, wenn nicht sogar höhere Zustimmungsquote von rund 20 Prozent. Eine wirklich intellektuelle Auseinandersetzung und saubere Kommentierung findet aber nur zu nahezu 0 Prozent statt.

Hierzu passt das in einem jüngst in der SZ veröffentlichten Artikel identifizierte Phänomen, dass rund 80 Prozent der Volontäre in den öffentlich-rechtlichen Medien Anhänger der Grünen oder Linken sind. Wo ist das journalistische Gegengewicht, das berechtigte Bedürfnisse der, sagen wir mal, peripheren AfD-Anhänger abdeckt? Wo ist das journalistische Äquivalent eines Gerhard Löwenthal, der in den 70er- und 80er-Jahren im ZDF-Magazin Gegenpositionen zu den damals gängigen linksliberalen Positionen vertrat und somit einem großen Anteil der Bevölkerung Gehör verschaffte und auf deren Ängste einging? Und somit vielleicht auch zum Niedergang der NPD beitrug.

Wir müssen verhindern, dass in Deutschland das passiert, was in Amerika mit Donald Trump passiert ist. Das erfordert auch mehr journalistischen Pluralismus und ernsthafte Auseinandersetzung mit den Anerkennungsbedürfnissen der tatsächlichen und potenziellen AfD-Anhänger.

Werner Geissler, München

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