Tätigkeit in der Altenpflege:Pflege Demenzkranker: Zeit für den Menschen

Lesezeit: 3 min

Viele Demenzkranke verlernen zwar das Sprechen, doch individuelle Vorlieben bleiben - zum Beispiel das Puzzeln. (Foto: Robert Kneschke - Fotolia)

Spazieren gehen, puzzeln oder Regale abstauben: "Zusätzliche Betreuungskräfte" gehen auf die individuellen Bedürfnisse der Patienten ein.

Von Miriam Hoffmeyer

Die alte Dame schnarcht leise. Sie hat sich auf einer Sitzbank im Gemeinschaftsraum der "Wohngruppe Luise" ausgestreckt. Sie hält ihr Nachmittagsschläfchen lieber hier als in ihrem Bett. Am Nebentisch sitzt eine Ordensschwester kerzengerade im Rollstuhl, vor sich "Das große Marienbuch" und einen Schuhkarton mit Stoffresten. Die Betreuerin Nicolette Feigk streichelt ihren Oberarm: "Möchten Sie wieder für uns Stoffe sortieren?" Die Hand der über 80-Jährigen zögert, wandert dann zu dem schweren Bildband. Mühsam, aber zielstrebig schlägt sie den Buchdeckel auf.

Die meisten Bewohnerinnen des Pflegeheims "Maria Hilf" im Untermarchtal sind dement. Viele haben das Sprechen verlernt. Trotzdem haben die Frauen individuelle Vorlieben und Wünsche, man muss sie nur herausfinden. Die Mitarbeiter des Heims, das zum Kloster Untermarchtal auf der Schwäbischen Alb gehört, tun das seit über einem Jahr systematisch - mithilfe eines Konzepts namens "Demian", das am Institut für Gerontologie der Universität Heidelberg entwickelt wurde.

Alle Mitarbeiter werden geschult, auch Reinigungskräfte und Hausmeister

Die Abkürzung steht für "Demenzkranke Menschen in individuell bedeutsamen Alltagssituationen". Das Besondere an dem Konzept ist, dass nicht nur Altenpflegefachkräfte geschult werden, sondern alle Mitarbeiter, die Kontakt zu den Bewohnern haben - auch Betreuer, Reinigungskräfte oder Hausmeister. Denn Demenzpatienten verhalten sich durchaus nicht zu allen Menschen gleich. "Von einer Bewohnerin wussten wir nicht, dass sie gern putzt, bis eine Reinigungskraft das erzählt hat", berichtet die Altenpflegerin Nicole Müller. "Jetzt darf sie dabei helfen, Regale abzustauben und Medikamentengläser zu putzen. Sie fühlt sich wieder gebraucht." Die Stimmung der Frau habe sich so sehr verbessert, dass sie ihre Medikamente gegen Depressionen absetzen konnte.

Buch über Demenz
:"Kann irgendetwas so grausam sein?"

Ron hat das Leben so sehr geliebt. Die Demenz nimmt es ihm Stück für Stück weg. Sein Sohn erinnert sich an dieses Vergessen mit einer Versöhnlichkeit, die zu Herzen geht.

Von Berit Uhlmann

"Es geht darum, mehr Freude und Sinn in den Alltag der Bewohner zu bringen", erklärt die Gerontologin Marion Bär, die das Heidelberger Konzept mitentwickelt und seine Einführung im Untermarchtal ein Jahr lang mit mehreren Workshops begleitet hat. Nachdem die Mitarbeiter ihre Beobachtungen in Fallbesprechungen zusammengetragen hatten, wurde jede kleine Änderung einzeln getestet und, wenn sie sich bewährte, nach und nach in der Tagesstruktur verankert. Nur so könnten Fortbildungen in der Pflegebranche, die wegen des Fachkräftemangels von Alltagshektik geprägt ist, überhaupt etwas bewirken, meint Bär: "Häufig wird nur geschult, aber nicht bedacht, wie das neue Wissen umgesetzt werden kann. Dann entsteht statt Verbesserungen nur Frust."

Mehr als 60 Prozent der Pflegeheimbewohner in Deutschland sind dement. Das liegt daran, dass alte Leute heute länger als früher zu Hause versorgt werden und erst ins Heim kommen, wenn es nicht mehr anders geht. Für Heimleiter und Mitarbeiter ist das keine geringe Herausforderung. Im Ganzen hätten sich die Heime aber recht gut auf die Entwicklung eingestellt, meint Professorin Martina Roes vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) in Witten: "Die stationäre Altenhilfe hat sich schon vor einiger Zeit auf den Weg gemacht, mit Menschen mit Demenz besser umzugehen - auch wenn nur wenige Einrichtungen ein Gesamtkonzept eingeführt haben." Die Pflegewissenschaftlerin leitet eine Expertengruppe, die bis 2017 einen bundesweiten Qualitätsstandard für die Pflege von Menschen mit Demenz entwickelt. Wesentlich sei es, sagt Roes, die Betroffenen als Person in den Mittelpunkt zu stellen und so lange wie möglich an Entscheidungen zu beteiligen.

Bei Menschen mit Demenz fällt zuerst ins Auge, was sie verloren haben. Doch im Pflegeheim im Untermarchtal achten die Mitarbeiter jetzt mehr auf die Stärken der Bewohner. "Es macht Freude, die Menschen zu unterstützen in dem, was sie noch können", sagt Nicolette Feigk. Die ehemalige Pharmavertreterin hat sich, nachdem sie arbeitslos geworden war, zur "zusätzlichen Betreuungskraft" qualifiziert - ein Berufsbild, das vor acht Jahren von der Bundesregierung ins Leben gerufen wurde, um den Personalmangel in der Altenpflege zu lindern.

Nach einer Studie des Bundesgesundheitsministeriums von 2015 gibt es inzwischen praktisch in jedem Altenheim zusätzliche Betreuungskräfte. Typischerweise sind es Frauen über 50, die in Teilzeit arbeiten. Füttern, waschen, umlagern oder Medikamente anreichen dürfen die Zusatzkräfte nicht - auch wenn immer wieder über Verstöße und Grauzonen berichtet wird. Vor allem in den ersten Jahren kam es laut Studie oft zu Spannungen zwischen den Pflegefachkräften und den schlechter qualifizierten und bezahlten Betreuern, deren Tätigkeit eher belächelt wurde. Inzwischen sei die Zusammenarbeit in den meisten befragten Einrichtungen gut.

"Man muss sich auch zurücknehmen können"

Feigk berichtet von ähnlichen Erfahrungen: "Nach meiner Qualifizierung habe ich zuerst in einem anderen Altenheim gearbeitet. Da habe ich öfter gespürt, dass meine Arbeit von den Pflegekräften nicht so gewürdigt wurde. Hier ist die Achtung untereinander viel größer." Dazu habe auch die Fortbildung im Team beigetragen. Nicole Müller bestätigt das, die Betreuerinnen seien eine große Entlastung für die Altenpflegerinnen: "Sie schaffen viel, was für uns aus Zeitgründen nicht machbar ist."

Nicolette Feigk begleitet die Bewohner durch ihren Alltag, singt mit ihnen, geht mit ihnen im Garten spazieren: "Die Sinneseindrücke in der Natur sind durch nichts zu ersetzen." Bei allem, was sie tut, achtet sie auf individuelle Vorlieben und Abneigungen. Eine Demenzpatientin sitzt gern am offenen Fenster, die andere freut sich, wenn man ein paar Schritte mit ihrem Gehwagen mitläuft, die dritte liebt Handmassagen mit Duftölen, auf die sich Feigk spezialisiert hat, die vierte kann Düfte gar nicht leiden: "Dann muss man sich auch zurücknehmen können." Während Feigk erzählt, hat die alte Ordensschwester es geschafft, einige Seiten des Marienbuchs in den Griff zu bekommen und anzuheben. Endlich liegt der Bildband aufgeschlagen vor ihr. Sie wirkt zufrieden.

© SZ vom 12.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Alzheimer
:Neue Alzheimer-Therapie reduziert Ablagerungen im Gehirn

Viele Forscher sind begeistert - doch ob es Patienten dadurch tatsächlich besser geht, ist noch lange nicht klar.

Von Hanno Charisius

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: