Die Deutschen leiden unter einem föderal zersplitterten Schulsystem, und das große, grundlose Selbstbewusstsein der bundesrepublikanischen Kleinststaaten beschert ihnen immer neue Sonderwege. Im Saarland hat die Jamaika-Koalition gerade den Plan präsentiert, die Grundschulzeit von vier auf fünf Jahre zu verlängern. Damit stünde das Saarland bundesweit alleine da. Es wäre umschlossen von Bundesländern, in denen die Grundschule vier Jahre dauert. In Hamburg können die Bürger am Sonntag in einem Volksentscheid darüber abstimmen, ob die Kinder künftig sechs Jahre zur Grundschule gehen. Jedes Land eröffnet zurzeit seine eigene pädagogische Wursttheke: Darf's ein bisschen mehr sein?
Für Eltern ist das nicht nur sehr unübersichtlich. Es belastet jeden, der mit seinen Kindern in ein anderes Bundesland umzieht. Denn was in der Grundschule beginnt, setzt sich später fort: Überall gibt es andere Lehrpläne, andere Stundentafeln und ein anderes System der gymnasialen Oberstufe. Bei der Ausbildung der Lehrer ist der Wildwuchs selbst für Experten nicht mehr zu überblicken. Seit Jahren entwerfen Politiker die Vision eines "gemeinsamen europäischen Hochschulraumes". Doch bei den Schulen fehlen schon auf nationaler Ebene die Gemeinsamkeiten. Jedes Bundesland hat eine eigene mächtige Kultusbürokratie, und jedes Land interpretiert die Daten aus der Schulforschung und den Rat der Experten auf seine - oft eigenwillige - Weise.
Welche Schulreform es wo und wie gibt, ist nicht das Ergebnis eines produktiven föderalen Wettbewerbs und fundierter pädagogischer Erfahrungen. Entscheidend ist die machtpolitische Konstellation, sind fragwürdige Kompromisse in den jeweiligen Koalitionen. So kommen dann Entscheidungen wie in Saarbrücken zustande. Eine Verlängerung der Grundschulzeit um ein Jahr ist, pädagogisch betrachtet, lächerlich, aber die Grünen können nun behaupten, sie hätten "längeres gemeinsames Lernen" durchgesetzt. Damit tragen sie jedoch große Unruhe in die Schulen. Die Reform ist organisatorisch aufwendig, und sie löst vor allem an den Gymnasien, denen nach der Einführung des G8 erneut ein Schuljahr verlorengeht, große Widerstände aus.
In Hamburg ist das bereits seit Monaten zu beobachten, und es ist möglich, dass der schwarz-grüne Senat beim Volksentscheid am Sonntag eine schwere Niederlage erleidet. Wie auch immer die Abstimmung ausgeht: Die Stadt ist gespalten in zwei Lager; der unerbittliche Kampf um die Dauer der Grundschule hat viel Kraft gekostet, ohne dass die Kinder etwas davon gehabt hätten. Man kann es bedauern, dass in Deutschland integrative Schulmodelle stets heftige Reaktionen und Protest provozieren, während in den meisten europäischen Ländern eine sechsjährige oder neunjährige "Schule für alle" völlig selbstverständlich ist. Man kann diesen Widerstand aber nicht einfach ignorieren, man muss mit ihm rechnen und sollte sich nicht an der falschen Stelle verkämpfen.
Wichtiger als der Kampf um die Grundschule (und damit indirekt um die Dauer der Gymnasialzeit) ist die Struktur der weiterführenden Schulen. Hier gehen das Saarland und Hamburg zu Recht ähnliche Wege, indem sie neben dem Gymnasium nur noch eine Schulform anbieten, an der alle Abschlüsse möglich sind. So bleibt möglichst lange offen, wie weit ein Jugendlicher in der Schule kommt. Der Wechsel nach der Grundschule verliert damit für die schwächeren Schüler und die Spätzünder viel von seinem Schrecken, zumal dann, wenn es keine verbindlichen Empfehlungen für das Gymnasium gibt. Sowohl das Saarland als auch Hamburg und demnächst Nordrhein-Westfalen setzen auf den Elternwillen. Damit nehmen sie Druck aus der Grundschule und beruhigen die Eltern, die in Panik verfallen, wenn ihr Kind in der dritten Klasse nicht nur Einser nach Hause bringt.
Die künftige rot-grüne Regierung in Nordrhein-Westfalen tut gut daran, an der Grundschulzeit nicht zu rütteln und stattdessen Gemeinschaftsschulen von der fünften Klasse an zu ermöglichen. Auch Kommunalpolitiker der CDU sind froh, wenn sie auf dem Land eine wohnortnahe Schule für alle anbieten können. Hier sind pragmatische, lokale Lösungen gefragt. Früher oder später werden auch Bayern und Baden-Württemberg sich dafür öffnen müssen.
Rot-Grün in Nordrhein-Westfalen schreckt aus guten Gründen davor zurück, eine große Reform über die Schulen zu stülpen. Der Wandel soll von unten wachsen. Auch bundesweit wäre es wünschenswert, wenn die einzelne Schule und die einzelne Gemeinde mehr Gestaltungsspielräume bekämen. Nötig ist dann allerdings ein verlässlicher, fester Rahmen, in dem sich alle bewegen, von Flensburg bis Passau. Sonst käme zur föderalen Kleinstaaterei noch ein kommunales Durcheinander hinzu.
Könnte man das deutsche Schulsystem völlig neu ordnen, wäre eine Kombination aus bundesweiten, zentralen Regeln und kommunaler, dezentraler Autonomie vielversprechend. Für die einzelnen Bundesländer bliebe dann schulpolitisch wenig übrig. Aber das wäre ja gerade das Gute daran.