Zuerst der Sonnengruß. Dann biegt, streckt und faltet sich der Körper zum Herabschauenden Hund, zum Fisch, zur Kobra und Krähe und was das Tierreich sonst noch an Bezeichnungen für strapaziöse Verrenkungen zu bieten hat. Yoga nennt sich das. Wer es trainiert, hofft auf einen beweglicheren Körper, Linderung von Beschwerden, innere Ruhe oder spirituelle Erkenntnis. Vor allem vertraut er darauf, dass die Verrenkungen nicht schaden, sondern guttun.
Welch ein gewaltiger Trugschluss das sein kann, lernen viele Yogis irgendwann unter Schmerzen. Gezerrte Muskeln, gereizte Gelenke, entzündete Nerven und gerissene Bänder: Die Liste der möglichen Yoga-Folgen ist ähnlich lang wie die Krankengeschichte mancher Profi-Fußballer. "Die Yoga-Gemeinde hat lange über das Risiko heftiger Schmerzen geschwiegen", schreibt der amerikanische Journalist William Broad in einem Vorabdruck seines in wenigen Tagen erscheinenden Buches "The Science of Yoga". Broads deutliche Worte empören manche Yogis, die den Autor als ahnungslosen Skandalisierer beschimpfen.
Doch Mediziner, Physiotherapeuten und viele erfahrene Yogis wissen um die Risiken des Trendsports: "Es gibt einen wahren Kern an der These, dass Yoga gefährlich sein kann", sagt Jürgen Steinacker, Leiter der Sport- und Rehabilitationsmedizin der Uniklinik Ulm. "Yoga stellt eine extreme körperliche Belastung dar." Für Angelika Beßler, Chefin des Berufsverbands der Yogalehrenden in Deutschland, sind die Warnungen nichts Neues: "Gut ausgebildete Yogalehrer wissen um das Risiko, sich zu überfordern."
Gefährdet sind vor allem jene Körperregionen, die für viele Menschen ohnehin zu den Problemzonen gehören: Wirbelsäule, Schulter-, Knie- und Hüftgelenke. Übungen, bei denen man sich stark zurückbeugt wie bei der Kobra und dem Aufschauenden Hund, belasten den unteren Rücken. Wer Schulterstand probt, ohne die Schultern etwas erhöht auf einem Podest abzulegen, riskiert Nackenschmerzen. Und der typische Lotussitz mit gekreuzten Beinen kann zur Qual für die Knie werden, wenn man sie mit großer Anstrengung Richtung Boden drückt. "Häufig werden beim Yoga Bänder, Sehnen und Gelenke überdehnt", sagt Ingo Froböse, der an der Sporthochschule Köln das Institut für Bewegungstherapie leitet.
Im Extremfall leiern die Bänder regelrecht aus und können den Gelenken dann keinen Halt mehr bieten. Statt dass Yoga den Körper kräftigt, können die Übungen ihm auch seine Stabilität nehmen. "Für die Muskeln ist das Risiko geringer, weil sie sich besser an die starke Belastung anpassen können", so der Sportwissenschaftler.
Viele ahnen nicht, dass die Schmerzen vom Yoga stammen
Wie viele Menschen unter schmerzhaften Nebenwirkungen von Yoga leiden, lässt sich kaum sagen. Die verfügbaren Zahlen scheinen zunächst jenen Menschen recht zu geben, die Warnungen vor den Yoga-Risiken für überzogen halten. So sprach die amerikanische Consumer Product Safety Commission im Jahr 2007 von 5500 Fällen, in denen Menschen in den USA mit Yoga-Verletzungen in die Notaufnahme kamen - von schätzungsweise 20 Millionen Yogis.
In Deutschland liegt deren Zahl groben Schätzungen zufolge bei fünf Millionen; Daten über schwere Unfälle gibt es nicht. Ohnehin würden viele Betroffene nicht zum Arzt gehen, wenn nach der Yogastunde der Rücken drückt, sagt Monika Pohl vom Zentralverband der Physiotherapeuten. "Weil Schmerzen oft zeitverzögert auftreten, kommen viele Menschen nicht auf die Idee, dass ihre Beschwerden vom Yoga stammen." Womöglich schämen sich manche Yogis auch, sich während vermeintlich sanfter Übungen verletzt zu haben.
Einzelfallberichte in medizinischen Fachmagazinen beschreiben beschädigte Arterien, die das Gehirn mit Blut versorgen. Bewegt man während der Übungen den Nacken ruckartig und weit nach hinten, kann das zu Schwellungen und Blutgerinnseln in den Adern führen. Im Extremfall droht ein Schlaganfall - auch bei jungen, gesunden Menschen.
Nervenschäden durch den Lotus-Sitz
Zu einem feststehenden Ausdruck ist unter Ärzten die "Lotus-Neuropathie" geworden. In Fachblättern berichten sie von Yogis, bei denen die berühmte Sitzposition mit gekreuzten Beinen den Ischias gereizt oder zu anderen Nervenschäden im Bein geführt hat. Auch Berichte über Patienten, die sich beim Yoga ein Band im Knie rissen, Rippenprobleme oder sogar eine Lungenembolie erlitten, finden sich vereinzelt in der Fachliteratur.
Dass ein anspruchsvolles Training Verletzungen mit sich bringen kann, überrascht eigentlich nicht. Das Problem ist nur: Als solches wird Yoga oft nicht verstanden. Wer Sport treiben will, läuft Marathon oder fährt Rennrad, spielt Fußball oder geht ins Fitness-Studio. Und Yoga? Das betreiben Menschen, die auch mal was für sich tun wollen und mit Seidenmalerei nichts anfangen können. Diesen Eindruck zumindest hinterlassen die Lobeshymnen in Wellness-Zeitschriften, Raus-aus-dem-Stress-Foren und Gesünder-Leben-Ratgebern. Vielen Menschen ist nicht bewusst, dass sie sich mit den vermeintlich sanften Dehnungen Schaden zufügen können.
Zumal niemand ernsthaft den gesundheitsfördernden Nutzen der indischen Lehre bestreitet. Schmerzen in Rücken, Kopf und Gelenken können sich bessern, ebenso die chronische Erschöpfung von MS- und Krebspatienten. Die angestrebte Entspannung lässt den Blutdruck sinken, und wer keine Beschwerden hat, profitiert im Idealfall von gesteigertem Wohlgefühl, innerer Ruhe und kann sich besser konzentrieren. "Yoga hat eine Reihe positiver Effekte", sagt der Ulmer Sportmediziner Steinacker. "Aber sie alle können sich umkehren."
Die Gefahr dafür ist besonders hoch, wenn schlecht ausgebildete Lehrer auf übereifrige Schüler treffen. Oder wenn das steigende Interesse an Yoga zu immer neuen Varianten führt, die nur noch wenig mit spiritueller Ertüchtigung und viel mit körperlichem Auspowern zu tun haben. "Manche dieser Entwicklungen sehe ich mit Argwohn", sagt der Kölner Sportwissenschaftler Froböse. "Es gibt keine wissenschaftlichen Belege, dass sie mehr Nutzen bringen." Dafür aber vielleicht mehr Schaden, wenn sich die Yogis zum Beispiel in einem bis zu 40 Grad heißen Raum abmühen wie beim derzeit angesagten Bikram- oder "Hot Yoga". Das ist nicht nur eine Strapaze, sondern auch gefährlich, denn der Schweiß kann in einem derart heißen Raum nicht verdunsten und die Haut kühlen.
Das Herumturnen in aufgeheizten Räumen mache Muskeln und Sehnen geschmeidig, und durch das Schwitzen entgifte der Körper - so wird häufig für Bikram-Yoga geworben. Soll man also ein bisschen Hitze in Kauf nehmen, um sich langfristig etwas Gutes zu tun? Nein, sagt auch die Yogalehrerin Beßler: "Aus meiner Sicht ist von dieser Yogaform abzuraten." Dass der Körper sich mittels Schwitzen entgiftet und eine solche Reinigung überhaupt nötig hat, gehört in das ausufernde Reich medizinischer Mythen. Für Menschen mit Herz-Kreislauf- und anderen Beschwerden können 40 Grad heiße Räume sogar ohne sportliche Betätigung riskant sein.
Und auch wer keine Vorerkrankungen hat, strapaziert Sehnen und Bänder leicht zu stark, weil "die Hitze ein irreführendes Gefühl der Biegsamkeit vermittelt", wie die Physiotherapeutin und Yogalehrerin Diana Zotos vom Rehabilitation Department der Klinik für Spezielle Chirurgie in New York warnt.
Was einfach aussieht, verlangt nach sorgfältiger Anleitung
Doch auch bei gemäßigten Temperaturen können Yogastunden mit Schmerzen enden, und das liegt nicht zuletzt an schlechtem Unterricht. Im Vierfüßerstand den Hintern in die Höhe zu recken, sieht zwar einfach aus, verlangt aber nach sorgfältiger Anleitung. Yoga eignet sich für jeden - das stimmt. Doch viele Schüler brauchen speziell auf sie zugeschnittene Tipps. "Wer schon Beschwerden hat, sollte seinen Arzt fragen", rät Beßler. "Ein gut ausgebildeter Lehrer kann die Übungen anpassen."
Wie aber soll das funktionieren, wenn ein Kurs 20 oder mehr Teilnehmer hat? "Aus der Neurophysiologie wissen wir, dass ein Lehrer maximal zehn oder zwölf Schüler beobachten kann", sagt Froböse. Hinzu kommt, dass sich auch Yogalehrer nennen kann, wer kaum etwas über die menschliche Anatomie und Physiologie weiß. Solche Kenntnisse sind aber notwendig, um einzuschätzen, welche Einheiten sich für einen Schüler eignen.
Schlecht ausgebildete Yogalehrer können auch deshalb viel Schaden anrichten, weil ihre Schüler sich oft selbst überschätzen. Menschen, die jahrelang auf Bürostühlen und in Autositzen kauerten, müssen erst einmal die richtige Atemtechnik lernen, ehe sie sich an komplizierte Verrenkungen wagen. Doch das geht vielen zu langsam. "Menschen starten oft von null auf 100, wenn sie sich erst einmal entschieden haben, aktiv zu sein", sagt Froböse. "Dabei ist ein Training viel effizienter, solange man sich leicht unterfordert fühlt."
Wer aber will in einem Kurs schon derjenige sein, der nicht einmal mit den Fingerspitzen bis zum Boden kommt, während die Nachbarn scheinbar mühelos auf ihren Bauchmuskeln schaukeln und dabei mit Armen und Beinen über dem Rücken ineinandergreifen? "Vor allem sehr sportliche Menschen sowie Anfänger neigen dazu, sich zu überfordern", sagt Beßler. Ähnlich empfindet es Physiotherapeutin Pohl: "Viele Yoga-Schüler sind zu ehrgeizig und haben ein geringes Körperbewusstsein." Wo ihre Leistungsgrenze liegt, können sie oft nicht beurteilen.
Schmerzen sind zwar ein hilfreiches Warnsignal, treten meist aber erst auf, wenn man bereits zu weit gegangen ist. "Es geht nicht um das Motto ,je extremer, desto besser'", sagt Beßler. Anstreben sollte ein Yogi stattdessen innere Ruhe und Entspannung - und das kann mühsamer zu lernen sein als Kobra, Krähe und Kopfstand.